Nach einer über dreißigjährigen Abwesenheit von der Pariser Oper ist nun im altehrwürdigen Palais Garnier eine mit Spannung erwartete Neuinszenierung der Banditen von Jacques Offenbach herausgekommen. Inszeniert hat es kein Geringerer als der maître de plaisir der Komischen Oper Berlin, Barrie Kosky.
Mit den Banditen hat Offenbach 1869, kurz vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges, in seiner letzten Zusammenarbeit mit den brillanten Librettisten Meilhac und Halévy noch einmal einen großen Coup gelandet. Das erfolgreiche Trio entwarf ein Räuber- und Verwechslungsspiel, welches nichts weniger war als eine Satire auf die Skandale des Zweiten Kaiserreichs, vor allem der betrügerischen Bankiers jener Zeit, eine komische Parabel auf den Satz: „Money makes the world go round“.
Das Stück ist eine der besten Offenbachiaden. Verkleidung, Travestie: die Vortäuschung falscher Tatsachen, das Rollenspiel, dient den Autoren (Librettisten) dabei nicht nur als probates Mittel der Komik, sondern zur Offenlegung einer Moral oder Erkenntnis, zur Diffamierung der herrschenden Klasse. Einen absoluten Gipfel der Verkleidungs-Dramaturgie findet sich in den Banditen, deren gesamter Handlungsverlauf aus einer Kette von Rollenwechseln besteht, der mit der Stringenz einer chemischen Reaktion abläuft: Im zweiten Akt schlüpfen die Banditen nacheinander in die Kleider von Bettlern, des Gasthof-Personals, der Mantuaner und schließlich der spanischen Gesandtschaft.
Es ist die Geschichte des Banditenchefs Falsacappa, der nach Prinzessinnenraub und versuchtem Coup auf den Staatsschatz des Fürstentums von Mantua einsehen muss, dass die Minister, die er berauben will, die größeren Gauner sind als er selbst, denn sie haben die Gelder der Staatskasse (eine Mitgift von drei Millionen) längst veruntreut. Banditen und Banker, Staatsbeamte und Politiker werden schließlich ununterscheidbar. Die staatlichen Autoritäten sind offensichtlich krimineller als die Banditen – daran ändern auch die Carabinieri nichts, die mit schwerem Stiefeltritt immer zu spät kommen. In der Pariser Inszenierung sind es freilich die carabiniers von heute. Am Ende wir der Räuberhauptmann begnadigt und zum Polizeichef ernannt.
Diese letzte der großen Buffo-Opern Offenbachs, die am Vorabend des deutsch-französischen Kriegs entstand, bietet natürlich mit ihren bitter-komischen Anspielungen auf Geld, Macht, Politik, vor allem aber auf die Korrumpierbarkeit von Politikern und die Lächerlichkeit der Armee Gelegenheit zu aktueller Gesellschaftssatire, auch wenn sie auf das Zweite Kaiserreich in Frankreich gemünzt war.
Die aktuelle Pariser Aufführung hätte eine Sternstunde werden können, zumal der Verlag Boosey & Hawkes im Rahmen seiner Keck-Neuedition der Werke Offenbachs zum ersten Mal seit 1878 die (rekonstruierte) Orchestrierung der späteren großen Fassung bereitstellte (was beschämenderweise im Programmheft nicht einmal erwähnt wurde!).
Die bisher nie gehörte Fassung klang – was Wunder – im riesigen Palais Garnier geradezu superb. Ein Glück: Das eigentliche Glanzlicht und der Retter der Aufführung war der international renommierte italienische Dirigent Stefano Montanari, eigentlich aus der „historisch orientierten Aufführungspraxis“ kommend, er war ursprünglich Barockgeiger in der Accademia Bizantina. Er hat Offenbach ins Herz geschaut und in rasantem Tempo, rhythmisch zugespitzt und mit ironischem Augenzwinkern der Aufführung ordentlich Beine gemacht. Er hat beherzigt, was schon Paul Bekker, der Offenbachjünger der Weimarer Republik, über Offenbach sagte: „Die Tänze (bilden) einen Hauptbestandteil der Offenbachschen Werke… In dieser Fähigkeit, das gesungene Wort mit der Tanzgebärde zu verbinden, liegt eines der tiefsten Geheimnisse von Offenbachs Kunst.“ Dieses Geheimnis ist im Palais Garnier beglückend offenbar geworden. Montanari hat einen Offenbach dirigiert, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Das Orchestre de l’Opéra national spielte zum Niederknien schön, schnell und präzise, der Chor der Opéra national sang um sein Leben.
Von den solistischen Sängern des großen, durchaus ehrenwerten Sängerensembles kann man das nicht behaupten. Es gab immerhin Lichtblicke und schöne Stimmen. Marie Perbost sang eine entzückende Räuberhauptmannstochter Fiorella. Auch Yann Beuron als Baron de Campotasso und Laurent Naouri als Chef des carabiniers wurden ihrem guten Sänger-Ruf gerecht. Auch Adriana Bignagni Lesca als Princesse de Granada überzeugte durchaus, um nur einige Sänger herauszuheben
Der absolute Tiefschlag war der gewiss vielseitige niederländische Tenor Marcel Beekmann (stimmlich eine Mischung aus Alte-Musik-Tenor und Travestiesänger) als Räuberhauptmann Falsacappa. Er hatte als Banditenchef wie eine reichlich tuntige, überschminkte Dragqueen mit blonder Perücke und in rotem Lackkostüm aufzutreten. Ein typischer Kosky-Einfall, der sich aus dem Libretto in keiner Weise rechtfertigen lässt und zur Erhellung der Figur nichts beiträgt.
Auch die vom Regisseur beauftragte neue Dialogfassung von Antonio Cuenca Ruiz brachte außer Kalauern, Anspielungen auf heutige Pariser Verhältnisse und Örtlichkeiten sowie Sottisen gegen Banker und Politiker wenig Originelles.
Das Bühnenbild von Rufus Didwiszus immerhin zeigt einen opulenten, dem Palais Garnier angemessenen, enorm großen, typisch pariserischen Barocksaal mit großen Türen, viel bespielbaren Leerraum und variable theatralische Dekorationsmöglichkeiten, er mag eine Hinterbühne oder einen Ballettprobenraum darstellen. Eine eindrucksvolle Spielfläche für die queere Karnevalsveranstaltung, die Barrie Kosky mit dem Stück veranstaltete. Wieder einmal zeigte er ein ausgelassenes, sich selbst genügendes Tuntenfest, eine Travestieshow, eine Art „höhere“ Blödelei ohne tieferen Bezug zum Stück, das erst nach der Pause ansatzweise erzählt wurde. Die vielen Tänzer befleißigten sich (gemeinsam mit dem Chor) einer drei Stunden dauernden, bewundernswerten Gymnastikübung. Sie schnurrte virtuos ab, war perfekt getimt in der Choreographie des Österreichers Otto Pichler, mit dem Kosky schon lange zusammenarbeitet.
Die Kostümierung von Victoria Behr war karnevalesk und freizügig, phantasievoll, ironisch und witzig. Die Produktion hätte einen Erfolg werden können. Man sieht viel Fleisch: Tänzer und Chor zeigen, was sie in ihren Höschen bzw. Körbchen haben. Erotische Anzüglichkeiten, Gegrapsche und Gefummele sind so selbstverständlich wie permanentes Gejubele, Gestampfe und Gekreische. Spätestens nach einer Stunde wurde das diskohafte Gebaren unerträglich, zumal es die Musik störte und die Veranstaltung auf ein Partyniveau absenkte. In der Pause verließen nicht wenige Zuschauer das Theater. Mit Offenbachs Intentionen hatte diese typisch berlinische Spaßveranstaltung nicht viel zu tun, das Stück war entstellt zur Groteske, die sich selbst genug war. Wieder einmal das (trotz aller Spaßigkeit) deprimierende Beispiel einer selbstverliebten Feier der Obsessionen des Regisseurs. Die Intentionen Offenbachs und seiner Librettisten wurden zur Nebensache. Schade.
Dieter David Scholz, 24. September 2024
Les Brigands
Jacques Offernbach
Ópera Palais Garnier, Paris
Premiere am 21. September 2024
Inszenierung: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Stefano Montanari
Orchestre de l’Opéra national
Weitere Vorstellungen: 24., 26. 27. September, 2. 3., 5. Oktober