Zürich, Ballett: „Clara“, Cathy Marston

Zu Beginn ihres zweiten Jahres als Direktorin des Balletts Zürich zeigt Cathy Marston mit Clara ihre bisher überzeugendste und stringenteste choreografische Arbeit. Das Szenarium, welches sie zusammen mit Edward Kemp für diese Kreation über das Leben von Clara Schumann-Wieck erarbeitet hat, ist von bezwingender Eindringlichkeit. Und es wird gegenüber Atonement vermehrt wirklich getanzt, bloße statische Pantomime hat keinen Platz mehr in diesem Drama um das Wunderkind, die Künstlerin, die Ehefrau, die Mutter, die Pflegerin, die Managerin und die Muse Clara.

© Carlos Quezada

Der zwei dreiviertel Stunden dauernde Abend (mit zwei Pausen) stellt eine konsequente Fokussierung auf eine Künstlerin, die sich zwischen Fesseln der Konvention, der Liebe, der Gehorsamkeit und dem Freiheitsdrang des genialen Künstlertums aufreibt und schließlich befreit. Cathy Marston hat dazu die Person „Clara“ auf sieben Tänzerinnen aufgesplittet, Nebenfiguren nur dort eingesetzt, wo sie zum Verständnis des Geschehens unabdingbar sind (mit Ausnahme des Geigers Joseph Joachim, getanzt von Pablo Octávio, der als einziger etwas amorph bleibt). Auf jeglichen Bühnenfirlefanz wird verzichtet: Ein stilisierter Teil eines Flügels erhebt sich aus dem Bühnenboden. Das wunderbare Bühnenbild von Hildegard Bechtler entworfen, dient als Rückzugsort ins Innere, sowohl für Robert als auch für Clara Schumann. Ein weiteres, mobiles Bühnenelement stellt eine Oktave der Klaviertastatur dar, allerdings mit sieben schwarzen Tasten und dient als Ort der Auftritte und der Beobachtung für die sieben Claras (und für einige Nebenfiguren und Statisten). Diese Aufsplittung auf sieben „Claras“ (mit ihrer quasi Dauerpräsenz auf der Bühne ähneln sie einem antiken Chor) bewirkt beim Zuschauer eine gewisse intellektuelle Distanzierung; bei „nur“ einer Tänzerin hätte die Gefahr einer zu starken Identifizierung bestanden und das Ballett hätte leicht in den Bereich eines Rührstücks abgleiten können. Das war hier nicht der Fall – aber bewegt war man eben trotzdem.

Eine starke Kostümdramaturgie (Bregje van Balen) unterstützt dabei den fesselnden Gesamteindruck zusammen mit der oftmals mit indirektem und Gegenlichtlicht arbeitenden Lichtgestaltung durch Martin Gebhardt. Bregje van Balen entwarf für die sieben Claras auf den ersten Blick einheitliche Kostüme mit wadenlangem, weißem, plissiertem unterem Teil und schwarz eingefärbtem Bereich um Schulter und Ausschnitt. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die Differenzierung der Claras durch subtile Applikationen auf den Kostümen. Die Männer sind mehrheitlich in Anzüge gesteckt, zum Teil mit Frack. Schumann tritt im ersten Akt in Petrol auf, im zweiten in Aubergine, im dritten natürlich in der weißen Kleidung der Irrenanstalt. Um das Ganze besser verstehen zu können, lohnt sich die Lektüre des exzellent auf die Figurenkonstellation eingehenden Programmbuchs, das viel Aufschlussreiches und Lesenswertes über die Familien Wieck und Schumann und über Johannes Brahms zu bieten hat.

© Carlos Quezada

Cathy Marston arbeitet im ersten Akt die häuslichen Gegebenheiten bei der Familie Wieck hervorragend heraus. Da ist der gestrenge, ambitionierte Vater Friedrich Wieck (Esteban Berlanga tanzt ihn mit herrlich raumgreifender Attitüde und Eleganz, das ist absolut sehenswert!), daneben die unter dem ehrgeizigen Mann leidende Mutter Mariane Wieck (Shelby Williams setzt ein empathisches Gegengewicht zur Gefühlskälte ihres Gatten), die Wärme und Geborgenheit außerhalb ihrer Ehe sucht und mit dem Liebhaber Adolph Bargiel (Joel Woellner) die Familie verlässt. Darunter leidet das Wunderkind Clara (Giorgia Giani) gewaltig – der Familienkonflikt spitzt sich zu und die Choreografie Cathy Marstons ist in diesen Momenten ganz besonders stark!

Und natürlich ist da noch die Christel (Francesca dell’Aria), in welche sich der bei Wieck Unterricht nehmende, lebenslustige Robert Schumann (Karen Azatyan) auch gleich verguckt und mit ihr im Bett landet. Aber neben der Lebenslust des brünstigen Jünglings (auch in der rasant choreografierten Wirtshausszene), werden ab und an eben auch schon die Schwermut Roberts und seine Selbstzweifel offenbar. Karen Azatyan verkörpert diese gespaltene Seele mit eindringlicher Kraft. Spannungsgeladen und verstörend, wie er wie im Wahn einer der Claras habhaft werden will, die ihn wie Furien umkreisen, mit faszinierender Spitzentechnik entschweben, bevor er eine von ihnen richtig zu fassen kriegt. Am Ende dieses Aktes kommt es zur Vereinigung mit der Künstlerin Clara (Ruka Nakagawa), die beiden drehen sich zum Fallen des Vorhangs.

Im zweiten Akt ist Clara (Nancy Osbaldestan) dann die Ehefrau Schumanns geworden. Zur Melodie eines der bekanntesten Lieder Robert Schumanns, Widmung, sind die beiden ein Herz und eine Seele, produzieren ein Kind nach dem anderen (Clara, die Mutter, wird getanzt von Sujung Lim). Aber neben der Idylle der Großfamilie werden auch die beruflichen Schwierigkeiten Roberts gezeigt: Insbesondere sein Scheitern als Musikdirektor in Düsseldorf. Wie er da mit Leidenschaft seine vierte Sinfonie dirigiert, doch wegen seiner Wesensart keinerlei Respekt bei den Musikern erreicht, ist grandios choreografiert. McKhayla Pettingill zeigt hier Clara als Managerin, welche versucht, die Situation zu retten. Es folgt der Besuch des 20jährigen Johannes Brahms (ganz wunderbar erfrischend getanzt von Chandler Dalton) im Hause Schumann. Brahms findet sofort großartigen, spielerischen Kontakt zu den Kindern (was Robert eher abgeht), seine Bewunderung für Robert, die schon beinahe homoerotische Züge annimmt und die Verehrung für Clara (die Künstlerin, die Ehefrau, die Mutter) werden von Marston einfühlsam herausgearbeitet. Doch schon bald folgt der Suizidversuch Roberts und seine auf eigene Initiative erfolgte Einweisung in die Nervenheilanstalt.

© Carlos Quezada

Im dritten Akt nun tritt die Muse unter den sieben Claras (Max Richter) in den Vordergrund – sie ist die Inspirationsquelle für den Komponisten Brahms und natürlich Anlass für einen sehr schönen Pas de deux. Stark choreografierte Szenen spielen sich zwischen den Ärzten (Marià Huguet und Wei Chen) und Clara und Robert ab. Die Ärzte verwehren nämlich Clara den Besuch ihres Gatten in der Anstalt in Endenich. Beklemmend anzusehen ist der Tanz Claras mit Brahms, beobachtet von Robert, der sich in seinem Wahn auf dem stilisierten Flügel in Qualen windet, heimgesucht von den sieben Erynnien, die einmal mehr auf Spitzen wie hereingeweht daherkommen und Robert gegen Dämonen kämpfen lassen. Ein intensiv getanzter Pas de trois folgt noch, dann stirbt Robert. Die Claras tragen nun Schwarz, außer Brahms‘ Muse. Für den Schluss hat Cathy Marston ein berührendes Bild gefunden: Die sieben Claras stehen auf dem Flügel, halten sich an den Händen, blicken dem toten Robert nach, wechseln die Seite, verbeugen sich Richtung Brahms, lassen dann die Hände los und schreiten zu neuen Ufern, während der Horizont sich öffnet. Roberts Tod ist nicht nur wehmütiger Abschied, sondern auch die Chance Claras, sich endlich selbst zu verwirklichen, als Frau, Mutter und Künstlerin!

Philip Feeney hat für seine Ballettpartitur nur Werke von Robert und Clara Schumann und von Johannes Brahms verwendet und eigene Überleitungen und Füller komponiert. Das ist im Grossen und Ganzen gut gelungen, vor allem der dramaturgisch klug durchdachte Einsatz der Werke ist phänomenal. Als Beispiel sei Schumanns Klavierkomposition „Bunte Blätter“ erwähnt, welche im zweiten Akt erklingt, daraufhin hören wir die Variationen von Brahms über dieses Schumann-Thema und im dritten Akt dann werden die Variationen aus der Feder Clara Schumanns über dasselbe Thema aus den „Bunten Blättern“ gespielt. Den Schluss macht dann das 1. Klavierkonzert von Brahms, bekanntlich eine Zangengeburt, aber es wäre ohne die Muse Claras wohl undenkbar gewesen.

An manchen Stellen war mir die Partitur Feeneys ein wenig zu dick, zu schwulstig instrumentiert und unter der Leitung von Daniel Capps mit der Philharmonia Zürich zu sehr nach breiigem Hollywood-Sound klingend. Denn die allerstärksten Momente in der Choreografie entwickelten sich, wenn die ausgewiesene Clara-Schumann-Spezialistin und exzellente Pianistin Ragna Schirmer am Flügel im Graben solistisch spielte. Vielleicht hätte man ausschliesslich auf Kammermusik aus der Feder der beiden Romantiker Robert Schumann und Johannes Brahms und der Romantikerin Clara Schumann setzen können, um die Intimität dieses Dramas noch zusätzlich zu unterstreichen.

Auch wenn einige Zuschauer das Haus bereits zu den Pausen verlassen haben (für mich nicht nachvollziehbar), war der Applaus für alle Beteiligten am Ende verdientermaßen groß.

Kaspar Sannemann, 14. Oktober 2024


Clara
Ballett von Cathy Marston
Musik von Clara Schumann, Robert Schumann,
Johannes Brahms und Philip Feeney

Opernhaus Zürich

11. Oktober 2024

Philip Feeney Musikarrengements
Choreografie: Cathy Marston 
Dirigat: Daniel Capps
Philharmonia Zürich