Pilsen: „Die Brandenburger in Böhmen“, Bedřich Smetana

Am alten Theatervorhang ist er gleich unten zu sehen. Gegenüber dem Namensgeber des Theaters, dem Dramatiker J.K. Tyl, schaut er nach links: der Komponist Bedřich Smetana. Kein Wunder, gilt er doch als Begründer der tschechischen Nationalmusik (falls es so etwas gibt: nationale Kunstmusik). Zudem hat er von 1840 bis 1843, da war er 16 bis 19 Jahre jung, in Pilsen gelebt und studiert, wovon heute noch eine Gedenktafel, eine Statue auf einem der schönsten Plätze und ein gutes Buch zeugen, das man im schönen Westböhmischen Museum für ein paar Kronen erwerben kann. Dass die beiden Smetana-Feierjahre 2024 und 2025, mit denen das Theater einen der größten Opernkomponisten ehrt, mit dem an drei aufeinander folgenden Tagen über die Bühne des Tyl-Theaters gehenden Zyklus gleich dreier Opern gleichsam gekrönt werden, ist allerdings nicht selbstverständlich. Allein so schafft man es in Pilsen, tatsächlich alle acht vollendeten Opern des großen Komponisten szenisch zu realisieren. Das Národni divadlo moravskosleské, das Mährische Nationaltheater, das in Ostrava, dem alten Ostrau, seinen Sitz hat, hat drei seiner älteren Smetana-Produktionen nach Pilsen geschickt, wo sie ihre Dernièren erleben; die Sache ist so bedeutend, dass vor dem Beginn des ersten Abends der Trilogie der Ostrauer Regisseur und Theaterdirektor Jiří Nekvasil und die Pilsener Kulturverwalterin vor den Vorhang treten, um das ungewöhnliche wie aufwendige (Gastspiele kosten) Unternehmen zu erläutern. Am Ende wird den angereisten Gästen ein langer wie heftiger Beifall entgegenkommen.

© Martin Popelář /Národni divadlo moravskosleské

Sinnigerweise beginnt am 4. Januar des zweiten Smetana-Jubiläumsjahres die Reihe mit Smetanas erster Oper. Die Brandenburger in Böhmen, tschechisch: Branibori v Cechach, gehört zu jenen Werken des Meisters, die nicht allein auf deutschen Bühnen so gut wie nie erscheinen, sondern auch im Heimatland des Komponisten selten realisiert werden; im schönen wie informativen Programmheft der Produktion werden immerhin sechs Produktionen dokumentiert, die von 1923 bis 2016 in Ostrava stattfanden. Auch in Prag hatten die Brandenburger nur selten ein böhmisches Hausrecht, so dass jede Aufführung dieses Erstlings, unabhängig von jeglicher Qualität, etwas Besonderes ist. Gibt es Gründe dafür, dass das Werk in Deutschland kaum, auf tschechischem Boden nur selten gespielt wird?

Zugegeben: Die 1863 vollendeten und 1866 im Prager Interimstheater uraufgeführten Brandenburger in Böhmen sind, streng betrachtet, ein Meisterwerk mit beschränkter Haftung. Dass man eine Oper nur live ganz und gar zu erfassen vermag, ist eine Binsenweisheit, die den Hörern und Zuschauern im Zeitalter der jederzeit übertragbaren Digitalinformationen noch immer gesagt werden muss. Man merkt also in Pilsen, dass Smetanas Opern-Opus 1 ein wenig mit einem anderen unbekannt-bekannten Werk eines anderen Opern-Großmeisters des 19. Jahrhunderts verwandt ist: Wagners Die Feen hat die selben Eigenheiten wie Smetanas Brandenburger, indem sie weder die Tradition der „romantischen“ / der „großen“ Oper verleugnen noch sich mit dem Überlieferten zufrieden geben. So, wie Wagners erster vollendeter Opernakt noch dramaturgisch und musikalisch teilweise unausgereift ist, so merkt man bei jedem Anhören der Brandenburger, dass der „eigentliche“ Smetana erst zu Beginn der dritten Szene beginnt: wenn Ludiše, die jugendliche Sopran-Heldin des pseudomittelalterlichen Ritter-Stücks, ihre Arie beginnt: „Možná-ly by na světe …“ Das strömt dann so unverwechselbar smetanesk ins Ohr, dass man Alles vergessen kann, was ansonsten an leerer Helden-Rhetorik und Schwerterklirren zu hören war und zu hören sein wird.

© Martin Popelář /Národni divadlo moravskosleské

Das Sujet aber verdankt sich dem historischen Zweck. Eine authentische, nationale Oper mit einer „historischen Grundlage aus der Geschichte der böhmischen Krone“ oder, wenn heiter, ein Thema, das dem „tschechisch-slawischen Volksleben“ entnommen ist: hinter dem Wettbewerbsziel von 1861, dem die Oper ihre Komposition ursächlich verdankt, steckte der Anspruch, endlich als autonome Nation neben die anderen großen Opernnationen, vor allem Deutschland und Italien, zu treten. Die Oper über eine historische Episode im Prag des 13. Jahrhunderts reflektiert auf sonderbare Weise die Auseinandersetzung der Tschechen mit den Deutschen, indem sie eine fernab liegende, typisch historistische Geschichte im Geist der Zeit erzählt. Sie spielt im Jahre 1279, kurz nach dem Tod König Ottokars II. Die Brandenburger fallen in Böhmen ein, doch befindet sich unter den Böhmen auch Verräter: der Deutsche (!) Tausendmark liebt Ludiše, eine der drei Töchter Volframs, des Bürgermeisters von Prag, diese liebt, natürlich einen anderen, den loyalen Junoš. Im Verlauf des Abends werden die drei Töchter des Bürgermeisters mehrmals gefangengenommen, immer stecken Tausendmark oder der brandenburgische Hauptmann Varnemann dahinter. Nach einer merkwürdigen Intrigen-Handlung wird der Verräter schließlich des Verrats überführt, der Renegat wird verurteilt, die Mädchen werden gerettet, das Mädchen kriegt den Jungen, die Feinde ziehen freiwillig (!) ab, und die Böhmen besingen ihre Stärke, obwohl sie wenig dazu taten, die Brandenburger zu vertreiben. Dazwischen gelegt: ein Bettlerheer, das unter Führung des Bettlerkönigs Jíra, des einzigen „Helden“ unter den Protagonisten, zwischenzeitlich, doch ohne Folgen, den Aufstand gegen die Reichen und die Prager Bürger üben.

Betrachtet man sich Karel Sabinas Libretto unter psychologisch-dramaturgischen Gesichtspunkten unter heutigen Standards, gelang ihm sicher kein Meisterstück, doch kommt es bei einer Oper ja nicht auf inhaltliche Konsistenz, Logik oder sprachliche Intelligenz an. Smetana selbst hat es gewusst: er bemerkte einmal, dass man auch das Bürgerliche Gesetzbuch vertonen könne. Es gilt, dass die Musik, da sie von einem Meister geschrieben wurde, tatsächlich alle dramaturgischen Schwächen vergessen lässt – zudem dann, wenn ein Regisseur es vermag, die Unsinnigkeiten, die aus unserer gegenwärtigen Perspektive dem Handlungsverlauf und den Charakteren anhaften, zugleich als psychologisch unstimmig, doch in einem weiteren Sinn als richtig, weil realistisch zu interpretieren. Dass Smetana dem Opern-„Bösewicht“ auch lyrische Töne geschenkt hat, die „an sich“ nur „positiven“ Charakteren gehören: Was spricht dagegen, wenn wir davon ausgehen, dass Menschen verschiedene Gesichter und Seiten haben? Dass die schönen Töchter gleich mehrmals entführt werden: Entspricht dies nicht den Erfahrungen, die man als Kriegsteilnehmerin in einer im Sinne von Albert Camus absurden Situation immer wieder machen kann? Natürlich darf man auch bezweifeln, dass das Libretto einen politisch gleichsam stimmigen Zusammenhang aufweist. Musik und Politik – man müsste nach dem genauen Zusammenhang fragen, aber ich belasse es bei einer freilich ein wenig diffus anmutenden Bemerkung des Philosophen Gilles Deleuze, der eine sonderbare Definition gab. Bei Giuseppe Verdi bestünde eine Beziehung zwischen dem harmonischen, die Affekte bestimmenden Klang und der melodischen Bewegung, die, so Deleuze, „die ganze Materie mit sich fortreißt“. Und also lautet der Schluss: „Die Musik ist eine Politik.“

© Martin Popelář /Národni divadlo moravskosleské

Man spürt es geradezu körperlich, wenn der hervorragende, fast 40 Köpfe umfassende und von Jurij Galatenko einstudierte Chor des NDM, der am Ende den gewaltigsten Beifall einheimst, die revolutionär anmutenden Gesänge der Prager Bettlerschaft coram publico und forte, aber auch die Gesänge des tschechischen Volks a capella, piano und außerordentlich betörend, heraussingt. Doch nichts wirkt hier, auch wenn’s so ist, als bloße Nummer. Schon in den frühen 60er Jahren war es ihm gelungen, die Vorbilder einzuschmelzen, zumal die Rezitative der Deklamation der tschechischen Sprache folgten, ja: Sie „verbinden sich mit den ariosen Gesängen und den in die Handlung eingreifenden Chören zu einem einheitlichen Ganzen“, wie Ivan Vojtěch in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters schrieb. Kein Wunder, dass die Uraufführung vor den Tschechen und Deutschen, die am 5. Januar 1866 über die Bühne ging, ein voller Erfolg war, auch wenn die Jury vorher Vieles in Sachen Harmonik und Gestaltung zu mäkeln hatte. Heute wird niemand mehr behaupten, dass Smetana keinen „geschulten Satz“ habe und „viele Gemeinplätze“aufweise, auch wenn die Partitur nicht den unausgesetzten Einfallsreichtum des Nachfolgenden aufweist. Schwerer wiegt der Vorwurf des Wagnerianismus und des (allzu großen) Einflusses der Musik Meyerbeers, doch dürfte es kaum gelingen, eindeutige „Stellen“ u identifizieren. Dem ungeachtet bleiben haltbare, wie Max Frisch gesagt hätte, Einzelstücke äußerst bemerkenswert: das Gebet der drei Schwestern, das Liebesduett, das Gebet des Dorfältesten, nicht zuletzt das himmlische Sextett mit Chor – das erste einer Reihe von bedeutenden Ensemblesätzen Smetanas, mit dem die Sängerinnen und Sänger beweisen können, dass sie im Tutti einen wunderbaren Gesamtklang aufweisen. Sie, also die Tschechen, scheinen, wie man’s gerade erst wieder bei der Prager Neujahrs-Libuše (https://deropernfreund.de/nationaltheater-prag/prag-libuse-bedrich-smetana/) bemerken konnte, ihren Smetana wirklich zu kennen und zu können. Insofern ist die Compagnie des Theaters in Mährisch-Ostrau das beste Beispiel für eine kultivierte Smetana-Pflege. Das Orchester des Theaters hat unter dem Dirigenten Jakub Klecker daran seinen gewichtigen Anteil: Sie spielen die Partitur, als spielten sie um ihr Leben, mit einem Wort: bravourös, leidenschaftlich, kontrolliert und emphatisch zu gleicher Zeit.

Die Publikumslieblinge des Abends heißen Veronika Rovná (sie singt die Ludiše mit einer geradezu goldenen wie geschmeidigen und hellen Stimme), der „böse“, aber zu emphatischen Aufschwüngen fähige Tausendmark des Heldentenors Martin Bárta und der Bettlerkönig Jíra des Gianluca Zampieri, der die wichtige Partie des Bettlerkönigs mit Saft und Engagement, schauspielerischem Einsatz und stimmlicher Deutlichkeit bringt, die sich am Ende zur pathetisch-großen wie verzweifelten Emphase steigert. Petr Levíček singt, sehr charakteristisch, den baritonalen Gegner, also den Brandenburger Varneman, während der jugendliche Held, also Martin Javorský, zwar relativ wenig zu singen, auch nichts zur Befreiung der Frauen und der Stadt beizutragen hat, aber in seinen lyrisch-dramatischen Phasen so zu glänzen weiß, dass im Publikum ein erstes „Bravo“ zu hören ist. Anna Nitrová und Šárka Hrbáčková bilden mit Veronika Rovná ein schlechthin ideales Terzett; Smetana schenkte ihnen zwei bezaubernde Einlagen: ein Gebet und einen Naturgesang. Bürgermeister Volfram ist natürlich ein Bass; Michael Kubečka singt ihn charakteristisch dunkelstark, und schließlich und last not least muss Martin Gurbaľ genannt werden. Zwar tritt er erst relativ spät in die Handlung ein, doch hat er als Ältester, als „Kmet“, und als geistiger Anführer der geknechteten Böhmen so Profundes zu singen, dass es eine Freud’ ist, dem Bass bei der Arbeit zuzuhören.

© Martin Popelář /Národni divadlo moravskosleské

Die geheime Hauptrolle aber spielt, wenn man ehrlich ist, der Chor. „Da werden“, schrieb Kurt Honolka, der sich um Smetana und seine Opern verdient machte, „Töne angeschlagen, wie man sie nie wieder bei Smetana hören sollte“ – was dem Erfolg des Werks keinen Abbruch tat. Auch hier ist es die Musik, die für die Bedeutung der Szene sorgt. Der Chorauftritt hat den Schwung, der aller sog. volkstümlichen Tanzmusik Smetanas anhaftet (gewiss: das Volk ist nicht „tümlich“, wie Brecht sagte); noch Dvorak hat ihn im Duett des Küchenjungen mit dem Heger in der Rusalka zitiert. Die Auftrittsmusik Jiŕas und der lustig plündernden Volksmasse im Rhythmus einer Skočná könnte genau so in der Verkauften Braut stehen, die in ihrer ersten Fassung bereits vor der Premiere der Brandenburger entstanden ist. Revolution und Patriotismus fallen hier in eins, sodass Smetanas Freund, der Dichter Jan Neruda, zwei Monate nach der Premiere in einem publizierten Epigramm zurecht anmerken konnte, dass der „Demokrat“ Smetana eine „Musik des Fortschritts“ geschrieben habe. Wie gesagt: „Die Musik ist Politik“ – und in Pilsen klingt sie auch und gerade in den betreffenden Szenen schier mitreißend, dabei orchestral äußerst souverän.

Und wie verhält sich die Inszenierung zum altertümlichen, mit zeitgenössischen Elementen des 19. Jahrhunderts angereicherten Stoff? In gleichem Maße vielfältig – oder anders: gelind widersprüchlich. Denn während unten die Ritter und Bürger und Bettler und Jungfrauen so agieren, wie man’s seit vielen Jahren gewohnt ist: sozusagen „realistisch“, aber auf psychologisch uninteressant, sehen wir auf der Oberbühne neben den schwarzen kubischen Seiteneingängen immer wieder ein bis drei projizierte Frauenleiber, die der surrealistischen Fantasie des Bühnenbildners Petr Matásek entsprangen. Da treffen sich die 20er oder 30er Jahre des 20. Jahrhunderts mit den Konventionen der Smetana- und der tschechischen Inszenierungszeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am Abend begegnet ein einziger „Regieeinfall“: wenn der Bettlerkönig das Angebot ausschlägt, sich den Bürgern zuzugesellen, nachdem ihn die Bannerträger des Bürgermeisters, die gerade den neuen Herrscher in Prag begrüßen, rüde zur Seite stießen. So landet er vor dem geschlossenen Vorhang (wo Zampieri schließlich, das ist gut heiter, vergeblich den Mitteleingang sucht). Ein weiterer Bruch des Traditionellen wird durch sechs von Lea Bessoudo Greck angeleitete Tänzer bewerkstelligt, die während der Kampfszenen des ersten Akts in weißen, wie angeschmutzt wirkenden Trikots abstrahierte Bewegungsmomente dazugeben. Es wirkt wie der Versuch, dem Stoff eine Moderne zu verpassen, die er kaum nötig hat – weil Smetanas Musik schon alles sagt.

Der Beifall ist gewaltig, das zählt. Und Smetanas Kopf wurde, man weiß das auch nach diesem musikalisch kostbaren Brandenburger-Abend, zu Recht auf dem Bühnenvorhang verewigt.

Frank Piontek, 5. Januar 2025


Die Brandenburger in Böhmen
Bedřich Smetana

J.K. Tyl-Theater, Pilsen
Gastspiel des Národni divadlo moravskosleské, Ostrava

Besuchte Vorstellung: 4. Januar 2025
Premiere am 9. Juni 2016

Inszenierung: Jiří Nekvasil
Musikalische Leitung: Jakub Klecker
Orchester des Národni divadlo moravskosleské