Frage: Was ist eigentlich (und uneigentlich) der Höhepunkt des diesjährigen Festivals Bayreuth Baroque? Antwort: Es gibt keinen – weil man 1. Äpfel nicht mit Birnen vergleichen kann und 2. ein Solo-Recital die gleiche Intensität und künstlerische Dignität aufzuweisen vermag wie eine Oper.
Man merkt es an einem Abend, der vier Zugaben provoziert und das internationale Publikum – die Bayreuther Musikfreunde gehen so gut wie nie in die Vorstellungen – am Ende wieder zum Jubeln bringt Im Mittelpunkt des Teatro dei Sensi, des Theaters der Sinne, steht Francesco Cavalli, der Komponist der Bayreuth Baroque-Oper 2025 – und eine Sängerin, die zusammen mit einem glänzenden Instrumentalensemble den Cavalli so in die Gegenwart brachte, dass, müsste man’s noch machen, an diesem Abend der Begriff der „Alten Musik“ endgültig begraben müsste; inzwischen spricht, glaube ich, keiner mehr davon, weil Interpretinnen wie Mariana Flores (aber wer interpretiert schon wie Mariana Flores?) die unheimliche Vitalität der Musik des 17. Jahrhunderts bewiesen haben: als sei kein Tag zwischen der Uraufführung eines Egisto, Giasone oder einer Calisto und Heute vergangen. Sie steht also im natürlichen und künstlichen Kerzenschimmer der Ordenskirche, das Konzert mit Kerzenlicht erinnert uns daran, dass seinerzeit, in den Opernhäusern Venedigs, die Kerze das einzige Leuchtmittel war. Zusammen mit der Cappella Mediterranea und seinem an Orgel und Cembalo sitzenden, äußerst beweglich-bewegten Leiter Leonardo Garcia-Alarcón, bringt sie, gesegnet mit einem schlackenlos leuchtenden wie zu dunklen Tönen fähigen Sopran, Cavalli-Arien aus 23 Jahren: von der frühen, 1639 uraufgeführten Nozze di Teti e di Peleo zum Spätwerk Ercole amante von 1662, dessen Libretto ein paar Jahre später von Antonia Bembo neuvertont wurde. Weiteres, Heiteres wie Lamentöses, erklingt rein instrumental: immer an der dramaturgisch richtigen Stelle, also im emotionalen Ablauf des Abends die besten Akzente setzend. Denn Flores, Garcia-Alarcón und seine Musikerinnen und Musiker, allesamt glänzende Solisten, verstehen das „Arienprogramm“, wie man altdeutsch gesagt hätte, nicht als Konzert, sondern als Semi-Oper. Wie Flores auftritt, wie sie die Affekte ihrer Figuren nach Außen bringt, wie sie, mit einem Wort, performt: Es hat jene Klasse, die aus dem Secco-Gemisch einen sprudelnden Cocktail aus Cavallis besten Stücken macht.

Der Abend beginnt schon zauberhaft: mit einer barocken Saitenmusik, mit Mónica Pustilnik an der Basslaute, dem unermüdlichen Quito Gato an der Theorbe, Marina Bonetti an der Harfe und Margaux Blanchard (ein Kollege nannte sie einmal ein „Licht im Schatten“) am Violoncello. Flores wiegt sich mit der Arie der Venus wahrlich venusgleich in die Arie Mira questi due lumi aus der frühen venezianischen Nozze hinein. Sie nutzt nicht allein ihren ganzen Körper, um den leidenden, wütenden, unbändig fröhlichen und frechen Frauen und den wenigen Männer (Nerillo und Valfrino) ihre Stimme zu schenken. Sie nutzt auch den Raum der Ordenskirche, sie geht durch ihn bei Or con pania e con esca, wenn sie das Lamento der Procris, Volgi, deh volgi il piede aus Gli amori di Apollo e Dafne, herzbezwingend anstimmt. Sie tänzelt zu einem wunderbaren Trio, das sie aus drei kleinen, vom selben Autor, Giovanni Faustini, getexteten Nummern aus Egisto, Ormindo und Doriclea zusammengestellt haben; Egisto war, soviel zur Operngeschichte, im Herbst 1643, also im Todesjahr seines Lehrers Monteverdi, Cavallis erster internationaler Erfolg. Nach der Aufführung an S. Cassiano wurde er auch in der französischen Botschaft in Rom gegeben, in den darauffolgenden Jahren in Genua, Florenz, Bologna und schließlich in Paris. Die venezianische Oper war auch eine „Reiseoper“, als solcher ein Exportschlager: so wie die Sängerin aus Mendoza, die uns, nach ihrem Auftritt im Pompeo Magno, beibringt, wie man Cavalli zu bringen hat. Die ernste Arie der Eumene aus La virtú dei strali d’Amore geht streng sitzend am Taufbecken vor sich, dafür wird Medeas Dell’antro magico aus dem Giasone – sein größter Erfolg von 1649, der noch lange nach seinem Tod gespielt wurde – zur furiosen Kanzelrede einer wütenden Zauberin. Große Oper, mit einfachen Mitteln. Liedhaft einfach, doch zum Weinen schön, so klingt auch Diomedas Dimmi Amor, che farò aus dem Oristeo. Flores sitzt da in der ersten Bankreihe, erst rechts, dann links, sie ist uns ganz nah: durch ihre unmittelbare Präsenz, mehr noch durch ihre Stimme, die immer eine Haltung ist.
Und so geht es weiter im spannenden, nur an einer einzigen und passenden Stelle durch Beifall unterbrochenen Opernpasticcio: Isifiles Lamento Lassa, che far degg’io aus dem Giasone, der im Übrigen als Komödie endet, beginnt durchaus beschwingt, der verzweifelten Calistos Restino imbalsamente findet hinten, in der linken Loge statt (ein Rückzugsort für traurige Seelen), und Erismenas Speranza voi che siete wird von der Altarempore gebracht. Großartig die dynamisch-psychische Steigerung in Adelantes Ed è pur vero, o core aus dem Xerse – und sehr lustig das in Sachen Liebe und Sex herzhaft indifferente wie entfesselte Tanzlied des Veltrino, Quest’è un gran caso al certo aus der Hipermestra.
Der Zwischenbeifall war berechtigt, um einem gleichsam zweiten Vorspiel Platz zu machen. Mit der Sinfonia a 3, dem Prologo aus dem Orione startet man in die Schlussrunde. Nun erfährt auch, bei der Arie der Ermosilla aus der Statira, Menfi, mia patria, regno, der letzte Hörer, dass Innen und Assen bei Mariana Flores identisch sind. Der Rest ist, nach einer Instrumentalversion von Pur ti stringo, pur t’annodo aus dem Eliogabalo – eine Erinnerung an das vielleicht von Cavalli geschriebene berühmte Schlussduett aus der Poppea, Pur ti miro -, pures Leiden. Der Abend endet mit der Arie der Giunone aus dem Ercole amante, E vuol dunque Ciprigna, nicht, wie der vorabendliche von Lezhneva & Fagioli, freudig, sondern dramatisch.
In Wirklichkeit endet er, wie gesagt, mit vier Zugaben. Dem wilden Tanz folgt mit Che si può fare der großartigen Barbara Strozzi eines jener großartigen Trauerstücke der Zeit, die bis heute rühren: Was kann man tun, was kann man sagen? Was kann frau singen? Fast am Ende noch Alfonsina y el mar, das bekannteste Lied von Ariel Ramirez, getextet und vor einem halben Jahrhundert erstmals von Mercedes Sosa gesungen und eingespielt auf dem Album Mujeres Argentinas, auf Deutsch: argentinische Frauen. Da steht dann die Frau aus Mendoza und trauert, wie alle argentinischen Frauen, die das Lied kennen und / oder singen, um Alfonsina Storni, die ihr letztes Gedicht Voy a dormir (Ich gehe schlafen) schrieb und sich 1938 umbrachte:
Te vas, Alfonsina, con tu soledad
¿Qué poemas nuevos fuiste a buscar?
Una voz antigua de viento y de sal
Te requiebra el alma y la está llevando
Y te vas hacia allá como en sueños
Dormida, Alfonsina, vestida de mar…
Du gehst, Alfonsina, mit deiner Einsamkeit
Welche neuen Gedichte hast du gesucht?
Eine alte Stimme aus Wind und Salz
Bricht deine Seele und trägt sie fort
Und du gehst dorthin wie im Traum
Schlafend, Alfonsina, gekleidet in Meer…
Da steht sie, in der Mitte der Ordenskirche, „nur“ begleitet von Quito Gato und Mónica Pustilnik, die Straßen von Buenos Aires sind plötzlich ganz nah, so wie Zeit und Ort, 17. Jahrhundert und Venedig, Bayreuth und die Gegenwart eins werden.
Vielleicht war ja das Teatro dei Sensi der eigentliche Höhepunkt des Festivals Bayreuth Baroque 2025…
Frank Piontek, 12. September 2025
PS: Wer wissen will, wie Flores, Gato und Pustilnik Alfonsina y el mar 2023 im Teatro Colon brachten, kann es sich hier anschauen: https://www.youtube.com/watch?v=qRHDF21DED0&list=RDqRHDF21DED0&start_radio=1
Teatro dei Sensi
Bayreuth Baroque
Ordenskirche Bayreuth
Mariana Flores
Capella Mediterranea
Leitung: Leonardo Garcia-Alarcón