Hildesheim: „Die Göttin der Vernunft“, Johann Strauß

In den letzten Jahren zeichnet sich das Theater für Niedersachsen (TfN) in jeder Saison dadurch aus, dass es mindestens eine Rarität im Musiktheater entdeckt und zur Aufführung bringt. Diesmal ist es neben „Till Eulenspiegel“ von Emil Nikolaus von Reznicek (wird voraussichtlich im November besprochen) die letzte von Johann Strauß komponierte Operette „Die Göttin der Vernunft“, die im März 1897 im Theater an der Wien uraufgeführt und dort 36 Mal in Folge über die Bühne ging. Lange Zeit war sie vergessen, bis sie erst im Dezember 2009 in der Slowakei konzertant wieder aufgeführt wurde. Nun hat sie das TfN genau zum 200. Geburtstag des am 25. Oktober 1825 geborenen Komponisten auf die Bühne gebracht. Wer war die „Göttin der Vernunft“? In den Jahren nach der französischen Revolution 1789 wurde als die neue Glaubensform der „Kult der Vernunft“ eingeführt. Diese richtete sich gegen die bisherige christlich orientierte Tradition und damit vor allem gegen die katholische Kirche in Frankreich. Einer der Höhepunkte dieser recht kurzlebigen Bewegung war das sogenannte „Fest der Vernunft“ am 10.  November 1793 in der Pariser Kathedrale Notre Dame. Dabei war ein besonderer Programmpunkt der Einzug einer als „Göttin der Vernunft“ bezeichneten nackten Frau in die Kirche. Von dieser Namensgebung leitet sich der Titel der Operette ab.

© Jochen Quast

Kurz zum Inhalt der Originalfassung, die in den 1790er-Jahren spielt: Der Karikaturist und politische Dissident Jacquelin muss fliehen und erwartet in dem kleinen Ort Chalons nahe der deutsch-französischen Grenze die Ankunft seiner Geliebten, der Sängerin Ernestine. Darauf freut sich auch der cholerische Oberst Furieux, der dem Paar Pässe ausstellen soll. Ernestine lässt jedoch auf sich warten, weil sie in Paris die Rolle der „Göttin der Vernunft“ übernommen hat. Statt Ernestine trifft zunächst Mathilde de Nevers in Châlons ein. Die Aristokratin ist ebenfalls auf der Flucht; um sich vor einer Verhaftung zu schützen, wird sie kurzerhand von dem sonst eher gehemmten Gutsherren Bonhomme als Ernestine ausgegeben. Furieux umwirbt die vermeintliche Künstlerin, aber sie bevorzugt den Captaine Robert. Nach weiteren turbulenten Verwechslungen nehmen deutsche Truppen Chalons ein, was zur Folge hat, dass alle Verfolgten begnadigt werden und sich die Paare in Ruhe und Frieden vereinen können.

In der Hildesheimer Fassung mit teilweise modernisiertem Text ist die Handlung aus der Schreckensherrschaft der Jakobiner in die Zeit des deutsch-französischen Krieges 1870/71 verlegt. Die Figur des Jacquelin heißt hier Jaquino, der als spanischer Exilant auch in Frankreich große Schwierigkeiten mit der Zensur hat. Das passt zum satirischen Blick der Operette auf staatliche Eingriffe in künstlerische Tätigkeiten, die auch zum Ende des 19. Jahrhunderts europaweit noch Bedeutung hatten. Die Comtesse de Nevers wird in dieser Fassung nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zum Adel verfolgt, sondern wegen der Veröffentlichung unsittlicher Geschichten mit direktem Bezug zum Kaiser Napoleon III. Auch das säbelrasselnde Soldatentum der damaligen Zeit wird auf witzige Weise auf die Schippe genommen, indem beispielsweise die Soldaten von den Chordamen, dagegen und die Marketenderinnen und Bürgerinnen Chalons von den Herren gesungen und gespielt werden.

© Jochen Quast

Das war ein toller Spaß, den Regisseur Christian von Götz mit der Kostümbildnerin Amelie Müller und der Choreographin Katharina Glas auf die Bühnenbretter gebracht hatte. So schnelle, turbulente Szenenwechsel und tänzerisch quicklebendige Leistungen aller Mitwirkenden erlebt man selten. Es begann sozusagen mit einem Knaller zur munteren Ouvertüre, als sich unter Donner und Blitz der Vorhang öffnete und den Blick auf ein großes Porträt Napoleons III. freigab, das von den Darstellern unter Drohungen und anderen Missfallens-Äußerungen umrundet wurde. Das ebenfalls vom Regisseur entworfene, schlichte Bühnenbild passte mit seinen vielen Türen an allen Wänden bestens zum ideenreichen Boulevard-Stil der Inszenierung. Zum Gesamt-Konzept gehörte auch die bunte, fantasievolle Kleidung mit übertrieben geschmückten Uniformen, geradezu eine Kostüm-Orgie.

Besonders beeindruckend war die ansteckende Spiellaune des gesamten Ensembles einschließlich einiger Gäste. Da stand vor allem im ersten Teil als Comtesse de Nevers Neele Kramer, eine der Säulen des Hildesheimer Ensembles, mit munterem Spiel und ihrem charaktervollen, wie immer gut geführten Mezzosopran im Mittelpunkt des Geschehens. Die enorme Bühnenpräsenz von Tobias Hieronimi bewährte sichin der dankbaren Rolle des eher zurückhaltenden Gutsherrn Bonhomme, den er mit lebhafter Darstellung und witzigem französischem Akzent versah. 

Die litauische Sopranistin Gabrielė Jocaitė, neu im Hildesheimer Ensemble, fiel bereits während der Ouvertüre durch ein glänzendes Tanz-Solo auf, bekleidet nur mit einer Trikolore. Im Verlauf des Abends überzeugte sie als die Volkssängerin Ernestine weiterhin mit mancher Akrobatik und ihrem klaren, höhensicheren Sopran. Der Schauspieler Jan Kämmerer alsJaquinotrat als  Jacques Offenbach auf, der ja bekanntlich die Zustände im Kaiserreich Napoleons III. stark parodiert hat. In seiner Beweglichkeit, teilweise mit Slapstick-Einlagen, passte er gut zu Ernestine. Äußerst schneidig präsentierte sich als Oberst Furieux Julian Rohde, dessen feiner Tenor wieder positiv auffiel. Captaine Robert war Eddie Mokofeng, der zunächst sturzbetrunken auftreten musste, später dann stetig dabei war etwas zu stricken, was sich am Schluss als rotes Herz herausstellte, eine der wenigen übertrieben albernen Ideen. Dagegen gefiel erneut sein ausdrucksstarker Bariton, der besonders im Duett mit Neele Kramer wunderbar harmonierte. Dabei sei darauf verwiesen, dass die Liebesduette, die ja sonst in Operetten oft reichlich sentimental, manchmal schwülstig ausfallen, hier geschickt durch das Spiel der Akteure aufgelockert wurden. Das gilt auch für das melodienselige Duett des Oberst mit Susette, dem Kammermädchen der Comtesse (Marlene Mesa mit klarem Sopran). Eine kleinere Rolle, den Serganten Pandore, gab Andrey Andreychik mit markigem Bariton. Schließlich gefielen die schönstimmigen Choristinnen Steffi Fischer, Xin Pan und  Anne Anderson als witzigeGeheimagenten; mit preußischem Kommandoton gab Jan-Niclas Rohde einen Hauptmann des Herzogs von Braunschweig. Opernchor und Jugendchor des TfN in der Einstudierung von Achim Falkenhausen rundeten mit lebendiger Choreografie und ausgewogenem Klang alles ab.

Dass die Premiere ein begeistert gefeierter Erfolg wurde, lag auch ganz wesentlich an dem musikalischen Leiter GMD Florian Ziemen; er animierte die tüchtige TfN-Philharmonie zu flottem Spiel und ließ die vielen Tänze, neben Walzern auch der Can-Can und den Rundtanz der französischen Revolution La Carmagnole ausgesprochen spritzig servieren. Häufiger Szenenapplaus zeigte die Begeisterung des Publikums; es ließ sich die gute Laune auch nicht dadurch verderben, dass sich die Pause wegen eines versehentlich ausgelösten Alarms um eine gute halbe Stunde verlängerte, währenddessen man das Haus verlassen und in der Kälte auf die Fortsetzung warten musste. Jubelnder Schlussbeifall belohnte dann schließlich alle Mitwirkenden und das Regieteam.

Gerhard Eckels 26. Oktober 2025


Die Göttin der Vernunft
Johann Strauß
Hildesheim – Theater für Niedersachsen (TfN)

Premiere am 25. Oktober 2025

Inszenierung: Christian von Götz
Musikalische Leitung: Florian Ziemen
TfN-Philharmonie