Wiederaufnahme der erfolgreichen Produktion von 2017
Premiere am 19. Juli 2018
Dieses Jahr hatten die Besucher Glück, großes Glück, denn ich erinnere mich in den letzten zehn Jahren nicht an einen einzigen derartigen Premieren-Bilderbuchtag, wo man kurzärmlig bis fast zur Mitternacht noch angenehm genießen konnte. Wobei die 34 Grad Tagestemperatur sich zu angenehmen 24 noch gegen Mitternacht gerierten. Das obligate Bregenz-Pack – Wanderschuhe, Regenjacke, Südwester oder Filzhut und eine zusätzlich aufknöpfbare Regenhose – blieben unausgepackt. Allerdings ist das Sitzkissen für alle Menschen, die mehr als 50 Kg wiegen, weiterhin obligatorisch. Zwei pausenlose Stunden wollen ausgesessen sein – egal wie spannend und unterhaltsam die Produktion ist. Und hier gleich, wie im letzten Jahr, mein höchstes Lob vorweg: Unterhaltsamer und kurzweiliger wird man dieses Werk (und ich spreche nach bald 50-jähriger Opernerfahrung) selten erleben.
Wer in Bizets Volks-Oper Tiefen-Psychologie, Seriosität, Stimmporno und esoterische Reflektion sucht oder gar hohe Cs zählt, ist in Bregenz so fehl am Platz, wie der Partitur-Mitleser, der Schellackplatten-Sammler und Venylkenner mit seinen 384 Aufnahmen. Die Bregenzer Carmen ist einfach nur wunderbare Unterhaltung für alle auf durchaus akzeptablem internationalem Opernniveau. Und die Geschichte wird weder verfremdet noch unwerktreu gespielt. Publikumsflucht, wie ich sie in letzter Zeit immer öfter erlebe, findet a.) wegen fehlender Pause und b.) weil alles wirklich liebevoll – der Regisseur hasst die Oper nicht – inszeniert wird, nicht statt. Alle fühlen sich wohl und man geht fröhlich das bekannte Torero-Lied summend nach Hause.
Oper in Bregenz ist stets ein Spektakel – ein musikalisch, zirzensisches Gesamtkunstwerk mit Feuerwerk, viel Wasser und atemberaubenden Stunts. Eine zauberhafte Erlebniswelt mit der Musik von Bizet tut sich vor den staunenden Augen der Zuschauer auf. Dass dies am Ende nicht mehr ganz so viel mit Bizets ohnehin meist völlig überschätztem Werk – Folklore hin, Tiefenpsychologie oder Seelendrama her – namens „Carmen“ zu tun hat, ist völlig egal. Darum geht es ja auch gar nicht, denn auf der Giganto-Bühne ist Carmen ein kleiner roter Punkt und Don José ein kleiner gelber im wilden Wirrwarr einer Hundertschaft höchst mobiler Statisten, Künstler und Protagonisten. Ein guter Wanderer-Feldstecher (mind. 7 x 50) lohnt immer, auch wenn viele Bilder großflächig auf die Spielkarten projiziert werden, wie bei einem modernen Rockfestival. Hier will man das Publikum auf höchstem technisch zu realisierbarem Niveau, mit phänomenaler Tontechnik und unglaublichen dreidimensionalen Bühnenbildern einfach nur unterhalten und begeistern. Oper soll Spaß machen. Die Zuschauer müssen nicht leiden…
Wenn die ersten Takte der Musik perfekt aufgefächert und technisch ausziseliert, besser als in jedem Opernhaus, breitwandig in High End über 400 versteckte HiFi-Lautsprecher aus der sicherlich teuersten Tonanalage der Welt auf das Publikum überschwappen, dann werden auch bei Ihnen die Ohren Augen machen (alter Werbespruch ;-), denn die ersten Orchestertöne, die ja gerade bei Bizets Carmen besonders furios sind, explodieren förmlich. Man kann ohne Übertreibung sagen: diese Anlage klingt sicherlich besser als das, was die meisten Zuschauer zuhause haben – egal wie groß die Boxen sind. Und das Wunderbare ist, man sieht die Lautsprecher nicht. Orchester und Techniker sitzen zwar im Trockenen im Festspielhaus, aber alles kommt eins-zu-eins live rüber dank der Arbeit eines Dutzends versteckter brillanter Tontechniker, die auch ganz gezielt die Mikroports der Sänger je nach Position aus- und ansteuern. Was für eine Heidenarbeit!
Wenn also Micaela ganz oben in 30 Metern Höhe auf dem Finger der Kartenspielerin erscheint und singt, dann hört man sie auch von genau da. Natürlich wird sie für den spektakulären Abstieg gedoubelt, was der überwiegende Teil des Publikums kaum merkt, denn das ist so perfekt gemacht, wie der Austausch der singenden Carmen in die optisch gleiche Stuntfrau, die sich dann auf der Flucht kopfüber ins Wasser stürzt und in bewundernswertem Meisterschwimmer Kraulstil entkommt.
Und wenn am Ende Carmen im seichten Wasser strampelnd mit dem Gesicht nach unten solange heruntergedrückt gewürgt wird, bis sie zu Tode erschlafft scheinbar ertrunken im Wasser treibt, dann leistet die jeweilige Sängerin Gewaltiges und selbst der abgebrühte Rezensent konnte keinen Austausch wahrnehmen; den gab es auch nicht, daher mein größter Respekt nicht nur für die grandiose Sangesleistung von Gaelle Arquez (Carmen), sondern für ihren Wagemut, denn sie trägt ein unsichtbares Atemgerät unter ihrem voluminösen Kleid und atmet natürlich dann unter Wasser per Mundstück weiter, als ihr Körper erwürgt im Tode erschlafft.
Hat man früher noch aktiv mit Tauchern gearbeitet, die allerdings auch heute präsent sind für den Notfall, traut man solche Effekte im Jahr 2018 durchaus auch den sportlichen Künstlern zu. Heutige akzeptable Musiktheaterdarsteller sollten das bringen, gerade wenn sie in Bregenz auftreten. Oldstars wie z.B. Pavarotti, Caballé oder manch amerikanische heutige Diva würde das kaum überleben. Daher noch einmal mein Riesenrespekt vor allen Künstlern – wer hier singt ist mutig und abgehärtet, denn die sonst gelegentlich beinharte Wetterunbill verlangt viel. Da wird meist durchgesungen wenn es regnet… Dass in solchen Fällen auch die 7000 Zuschauer fast unisono zwar in ihre Regencapes schlüpfen, aber nicht ins Trockene oder Warme fliehen, zeigt das ungeheure Gefühl der Verbundenheit welches so schöne Musik evoziert. Man ist – und das ist das Wunderbare und Einzigartige in Bregenz – egal ob Musikkenner oder Laie oder sogar Opern-Erstbesucher im Sound herrlicher Musik verbunden vereint und genießt das einmalige Erlebnis. Ach wie schön sind doch diese Seefestspiele immer wieder aufs Neue.
Die grandiose 8 Millionen Euro teure Bühne (ausgiebige Würdigung siehe meine Letztjahres-Kritik weiter unten) von Es Devlin ist natürlich weiterhin tragendes Element der ganzen Produktion (Regie: Kasper Holten). Da allein der Aufbau ein halbes Jahr benötigte (!), hatte man sie im letzten Winter sinnvoller Weise auch nicht abgebaut. Alles funktionierte weiterhin bravourös. Nix Pappmaché!
Bei Aufführungen mit Mikroports ist es unselig einzelne Sänger besonders zu loben oder gar zu kritikastern an Tonhöhe, Tragfähigkeit oder lyrischer Emphase – alles geben ihr Bestes "ob´s stürmt oder schneit…". Wenngleich ich Cristina Pasaroiu (Micaela), die auch vom Publikum überschwenglich bejubelt wurde, doch herausgehoben erwähnen möchte. Besser, schöner und herzergreifender kann man die Partie auch an der Scala oder in Wien nicht singen. Ein Ohrenschmaus. Brava!
Auch steht der Gesang ja ansonsten nicht notwendigerweise, wie in Bayreuth, Wien oder Salzburg im Vordergrund. Bei Kartenpreisen, die mit 30 Euro (Wochentags) volkstümlich beginnen und nur auf den vorgeblich besten Kategorien marginal dreistellig werden, finden sich keine Opernfreaks mit Frequenz-Zählern (Wiener StOp) zur Kontrolle der hohen Spitzen-Tönen. Hier sitzt Otto-Normalverbraucher und freut sich wie ein kleiner König – mehr als mancher Opernfachmann anderswo. Überhaupt kann man sich hier an Oper noch richtig delektieren, kann sich auch der leidgeplagte Rezensent endlich mal wieder richtig freuen.
Seit vielen Jahren schon sitzen die mal wieder wunderbar aufspielenden Wiener Symphoniker im Festspielhaus und werden per Technik eingespielt – über zwei Videowände sieht man den Dirigenten und dank vorzüglicher neuer Bildregie auch in wichtigen Momenten die jeweiligen Solisten bzw. bei den sinfonischen Zwischenspielen das ganze Orchester. Fabelhaft gemacht. Man braucht eigentlich nicht zu erwähnen, dass der stets präsente Antonio Fogliani seine Musici mal wieder auf Beste vorbereitet hat. Und im Klangvolumen dieser Giganto-Tonanlage klang alles natürlich noch viel Gewaltiger und Wuchtiger als in jedem Opernhaus.
Über die bis ins letzte technisch brillante optische Nutzung der 45 (!) über 30 Quadratmeter messenden großen Spielkarten – jede wird von einem separaten Beamer bespielt – habe ich auch letztes Jahr ausgiebig geschrieben.
Last but not least die Chöre, die in Spielchor und Haus-Chor aufgeteilt sind. Die einen (u.a. der Kinderchor der Musikschule Bregenz-Stadt, Leitung Wolfgang Schwendinger) sieht man erst am Ende, wenn man aus dem Festspielhaus eilend sich präsentiert, während der größte Teil des Bregenzer Festspielchores und des Prager Philharmonischen Chores (Leitungen: Lukas Vasilek / Benjamins Lack) auf der Bühne agiert und singt – dazwischen Tänzer des Wired Aerial Theatre plus diverse zusätzliche Ballettisten und Statisten.
Erwähnenswert ist in Bregenz auch immer die teilweise hollywoodreife Stunt-Choreografie (Ran Arthur Brown), die perfekte Videoarbeit von Luke Halls, die prachtvollen Kostüme von Anja Vang Krak und natürlich der Chef des Lichts Bruno Poet, sowie die wichtigen „Obertonmeister“ Gernot Gögele & Alwin Bösch, ohne die nichts ginge und das musikalische Erlebnis und der Genuss nur halb so viel wert wäre.
P.S. Mein persönliches Sonderlob geht an Olaf A. Schmidt nicht nur wegen der Gesamt-Dramaturgie, sondern auch wegen des perfekten und lesenswerten, sowie mit tollen Bildern ausstaffierten unbedingt kaufenswerten (!!!) Programmheftes. Man erfährt alles über die Produktion, Technik, Hintergründe und sonst Wissenswertes. Ein Kleinod.
Szene-Bilder © Karl Foster
Hintergrundbilder und das letzte Bild mit Publikum © Der Opernfreund
Ihr Peter Bilsing 21.7.2018
P.S. So stellt es sich es von der Bühne aus betrachtet dar.
Credits CARMEN 19.7.18
Carmen Gaëlle Arquez
Don José Daniel Johansson
Escamillo Kostas Smoriginas
Micaëla Cristina Pasaroiu
Frasquita Léonie Renaud
Mercédès Marion Lebègue
Zuniga Yasushi Hirano
Moralès Rafael Fingerlos
Remendado István Horváth
Dancaïro Dariusz Perczak
Stuntmen – Wired Aerial Theatre | Tänzer | Statisten