Märchenzauber und Sozialstudie
Besuchte Aufführung: 3.12.2014 (Premiere: 25.10.2014)
Risiken übermäßigen Konsumgenusses
Gleich vielen anderen Opernhäusern hat auch das Theater Augsburg rechtzeitig zur Adventszeit Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ neu herausgebracht. Die Rezeptionsgeschichte des im Jahre 1893 am Hoftheater Weimar unter der musikalischen Leitung von Richard Strauss uraufgeführten Werkes war lange Zeit von märchenhaften Zuckerguß-Inszenierungen geprägt. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich indes immer mehr moderne, sozialkritische und manchmal auch pädophil angehauchte Interpretationen dazugesellt.
Stephanie Hampl (Hänsel), Cathrin Lange (Gretel)
Mit Blick auf das teilweise noch recht junge Publikum dieser Oper stellt sich für Regisseure hier in verstärktem Maße die Frage, ob sie die Geschichte traditionell in schönen Bildern erzählen oder ihr einen zeitgenössischen Anstrich geben sollen. In Augsburg ist Aron Stiehl das Kunststück gelungen, beide Deutungsmuster geschickt unter einen Hut zu bringen. Den Spagat zwischen farbenprächtigem Märchenzauber und eindringlicher Sozialstudie haben er und seinem Team Simon Holdsworth (Bühnenbild) und Dietlind Konold (Kostüme) hervorragend bewältigt. Dem Auge wird in gleichem Maße etwas geboten wie dem neugierigen Intellekt. Diese Produktion schafft einen perfekten Ausgleich zwischen den verschiedenen Regiestilen und hält für jeden Geschmack etwas bereit. Die Bedürfnisse des Kindes werden genauso befriedigt wie die des modernem Musiktheater anhängenden Erwachsenen. In der Beleuchtung der unterschiedlichen Aspekte findet Stiehl ebenfalls einen guten Mittelweg. Wenn er und Holdsworth beispielsweise im konventionell dargestellten zweiten Akt in erster Linie auf ein naturalistisches Akanthus-Dickicht setzen, wirkt das im Gegensatz zu so manch älterer Produktion in keiner Weise betulich. Durch einige fleischfressende Pflanzen als Sinnbilder des ständigen Hungers der Hexe auf Kinder wird zudem eine symbolische Komponente mit eingebracht. Auch bei der Durchleuchtung des tiefschürfenden gesellschaftskritischen Subtextes kommt er ohne Übertreibungen und Provokationen aus. Hier findet ein visueller Bilderzauber statt, der gleichzeitig zum Denken anregt und jegliche Art von Klischees vermeidet.
Cathrin Lange (Gretel), Stephanie Hampl (Hänsel)
Die Lehren des gebürtigen Augsburgers Bertolt Brecht sind Stiehl gleichermaßen vertraut wie Tschechow’sche Elemente, durch die die Spannung seiner temporeichen Personenregie noch verstärkt wird. Das wird im Zwischenspiel zum zweiten Aufzug offenkundig, wenn er den Zuschauerraum in das Spiel einbezieht und einigen Handlungsträgern Auftritte zubilligt, die vom Komponisten an dieser Stelle gar nicht vorgesehen waren. So wandeln Hänsel und Gretel in gemäßigt modernen Kleidern durch die Zuschauerreihen und bitten um Almosen, wobei sie auch vor der sich gestört fühlenden Dirigentin nicht halt machen. Die Eltern erscheinen ebenfalls im Auditorium, vermögen ihre Kinder aber nicht zu finden. Die Gefahr ist nahe, denn die Hexe in Gestalt einer liebevollen alten Oma – später präsentiert sie sich im BH und mit starker Bauchbehaarung sehr androgyn – streift auf der Suche nach neuen Opfern ebenfalls durch das Parkett und erscheint einige Zeit später außerdem bei der Pantomime. Hier hat auch das stumm durch die Luft schwebende Taumännchen in der Maske von Mary Poppins, das zu Beginn des dritten Aktes das Licht im Saal auspustet und im Orchestergraben angehen lässt, seinen ersten Auftritt.
Stephanie Hampl (Hänsel), Christopher Busietta (Hexe), Cathrin Lange (Gretel)
Der Traum der Geschwister ist gleichzeitig der Schlüssel zum Kern der Inszenierung. Stiehl zeigt ihn nicht als beschauliche Engels-Idylle, sondern als Wunschdenken der Kinder, die in der realen Welt in einem ärmlichen Wohnwagen hausen, dessen Kühlschrank immer leer ist. In dem Ausmaß wie sie in der Realität hungern müssen, eröffnet ihre Phantasie ihnen in besagter Szene den Weg in eine Konsumwelt, die sie wohl aus den Medien kennen, aber nicht an ihr teilhaben können. Hier werden ihnen alle ihrer Wünsche erfüllt. Zu Weihnachten schenken die Eltern Gretel ein Ballettkleidchen und Hänsel ein Fussball-T-Shirt. Sie träumen sich in ein 5-Sterne-Hotel, in dem zahlreiche Dienstmädchen und Pagen an die Stelle der herkömmlichen Himmelswesen treten. Von Darben kann keine Rede sein, denn die riesige Speisetafel im Hintergrund ist schon reich gedeckt. Ausgiebiger Völlerei ist Tür und Tor geöffnet. Und hier liegt der Knackpunkt.
Cathrin Lange (Gretel), Stephanie Hampl (Hänsel), Christopher Busietta (Hexe)
Denn darüber, dass mit den Verlockungen der Konsumwelt am besten reiche Beute zu machen ist, ist sich auch die Hexe im Klaren. Bei Stiehl lebt sie nicht in einem Lebkuchenhäuschen, sondern in einem putzigen, pilzförmigen Kiosk mit LED-Beleuchtung und der Aufschrift „Omas Kuchen“, in der sie die verschiedensten Süßigkeiten verkauft. Walt Disney lässt grüßen. Obwohl der Regisseur von einer Eins-zu-Eins-Übersetzung des Knusperhäuschens Abstand nimmt, trifft dieses stimmungsvolle Bild die Essenz der Handlung voll und ganz. Dem Zauber der fertigen Süßwaren korrespondiert der Schrecken des industriellen Herstellungsprozesses. Mit Hilfe des zum Zauberstab mutierten Kochlöffels lässt die Hexe aus dem Kiosk rasch eine schreckenerregende Backfabrik entstehen, die von einem überdimensionalem Sahnespender, den sie Hänsel in den Mund steckt, und einer riesigen Mikrowelle, die hier an die Stelle des Backofens tritt, dominiert wird. Der kunstvolle Anstrich der fertigen Süßwaren erfährt eine Relativierung durch die grausamen Produktionsbedingungen. Es ist eben nicht immer Gold, was glänzt. Das Entsetzliche unter der Oberfläche spricht eine andere Sprache und ist durchaus dazu geeignet, einem den Appetit auf Leckereien zu verderben. Da bedient man sich schon lieber an den normalen Lebensmitteln, die der Besenbinder im ersten Aufzug in seinen Discountertüten mit nach Hause bringt. Dass sich im dritten Akt Phantasie und Wirklichkeit derart effektiv die Hand reichen, macht den großen Reiz des Hexen-Bildes aus. Insgesamt wurde deutlich, dass übermäßiger Konsumgenuss nicht berechenbare Risiken mit sich bringt und dass Vorsicht geboten ist. Insoweit ist das Konzept von Stiehl voll aufgegangen.
Dong-Hwan Lee (Peter), Stephanie Hampl (Hänsel), Gertrud, Cathrin Lange (Gretel), Kinderchor
Gemischte Gefühle hinterließen die Sänger. Positiv an erster Stelle ist hier die über eine immense Spiellust verfügende, fetzig und aufgedreht agierende Gretel von Cathrin Lange zu nennen, die ihrem Part mit gut fokussiertem, frischem und ein schönes appoggiare la voce aufweisendem Sopran auch stimmlich voll entsprach. Mit nicht ganz so stark ausgeprägtem darstellerischem Elan, vokal aber mit einem vollen, runden Mezzosopran aufwartend, präsentierte sich Stephanie Hampl in der Rolle des Hänsel. Christopher Busietta erwies sich als schauspielerisch durchaus überzeugende Hexe, der er mit seinem sehr dünnen, kopfigen Tenor gesanglich aber keine Konturen verleihen konnte. Aus dem gleichen Grund vermochte Samantha Gauls Sand- und Taumännchen zumindest vom Gesang her nicht für sich einzunehmen. Einen sonoren, obertonreichen Bariton brachte Dong-Hwan Lee für den Besenbinder Peter mit. In der Partie der Gertrud ging Kerstin Descher zu oft vom Körper weg, was insbesondere in der Höhe eine recht keifende Tongebung nach sich zog. Das ist man von der sonst guten Sängerin nicht gewohnt. Hübsch sang der von Katsiaryna Ihnatsyeva-Cadek und Günther Sailer einstudierte Kinderchor.
Nach einigen kleinen Unebenheiten bei den Hörnern im Vorspiel liefen die Augsburger Philharmoniker im Lauf des Abends zu großer Form auf. Kapellmeisterin Carolin Nordmeyer betonte weder die Wagner’schen Aspekte der Partitur noch stellte sie deren volksliedhafte Aspekte in den Vordergrund. Der Mittelweg, den sie fand, war durchaus ansprechender Natur, weder zu schwer und wuchtig noch zu kammermusikalisch leicht. Insgesamt war ihr von zügigen Tempi bestimmtes Dirigat mehr analytischer als romantischer Prägung.
Ludwig Steinbach, 4.12.2014 Die Bilder stammen von A. T. Schaefer