Premiere: 31. Mai 2015
Besuchte Vorstellung: 21. Juni 2015
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Wenn ein mittleres Haus wie das Bielefelder Theater Wagners „Tannhäuser“ auf den Spielplan setzt, ist das ein mutiges Unterfangen. Die Bielefelder Aufführung beeindruckt umso mehr, als dass bis auf die Titelpartie und die Venus alle Partien aus dem Ensemble besetzt sind und Regisseur Jochen Biganzoli eine Inszenierung präsentiert, die zeitgemäß und dazu weitgehend schlüssig ist.
Tannhäuser ist hier ein etwas durchgeknallter Malerfürst im Stile einen Immendorf oder Lüppertz, der zwischen bürgerlicher Ehe mit Elisabeth und einer wilderen Existenz mit der Motorradbraut Venus hin und hergerissen ist. Bereits zum Vorspiel inszeniert Biganzoli die Hochzeitsfeier von Elisabeth und Tannhäuser, der sich aber nicht zum Jawort durchringen kann und die Hochzeit platzen lässt.
Religiöse Aspekte blendet Biganzoli aus. Die Pilgerchöre werden vom Rang und aus dem Foyer gesungen und sind hier innere Stimmen eines Über-Ichs oder schlechten Gewissens. Wenn Tannhäuser am Ende der Venus-Szene singt, „Mein Heil liegt in Maria!“, so ist Maria bloß seine nächste Geliebte, hier ein Lolly-lutschendes Teenie-Girl im Minirock. Später wird dieses Motiv in einem Video aufgegriffen und angedeutet, dass auch Elisabeth schon als Jugendliche eine sexuelle Beziehung mit Tannhäuser hatte.
Ein echter Clou ist der „Einzug der Gäste“, der hier vom Hauspersonal, Putzfrauen, Dienern und Technikern des Landgrafen gesungen wird. Das ist bissige Sozialkritik mit viel Humor, die vom Bielefelder Opern- und Extrachor großartig dargeboten wird. Dafür gibt es sogar Szenenapplaus.
Die Sängerinnen der Edelknaben sind die weibliche Begleitung der anderen Minnesänger, die offensichtlich auch kein keusches Leben führen. Da sich der Chor hier nicht auf der Bühne befindet, wird der Sängerkrieg zu einer handfesten Auseinandersetzung auf einer Society-Party, auf der Tannhäuser von den anderen Herren verprügelt wird. Wenn Tannhäuser enthüllt, er sei im Venusberg gewesen, meint er damit nicht sein Leben mit der Motorradbraut, sondern dass er Sex mit Elisabeth hatte, der er bei seinem letzten Lied das Kleid vom Leib reißt.
Der dritte Akt kann da nicht ganz mithalten und ist nur mit der psychischen Zerrüttung der Figuren erklärbar: Elisabet wird von Wolfram vergewaltigt und später erdolcht. Die Rom-Erzählung wird zum Poetry-Slam auf einem Barhocker und wenn Tannhäuser zurück zur Venus will, verkleidet er sich als Frau. Zum Schlusschor sitzt der verrückt lachende Tannhäuser in seinem Atelier und spielt mit dem Bühnenbild der Aufführung.
Dieses stammt von Wolf Gutjahr und ist aus den vier riesigen Buchstaben des Wortes „Welt“ zusammengesetzt ist. Jedem Buchstaben ist auch ein szenischer Bereich zugeordnet: Da gibt es den Festtisch der Minnesänger, die Wohnküche der Venus mit Motorrad, das Atelier des Malers Tannhäuser und ein Bereich mit zwei überdimensionalen Lautsprecherboxen, der aber als Spielfläche nie genutzt wird.
Die Riesenbuchstaben sind als Symbole für die Welt, mit der sich Tannhäuser im Kampf befindet aber eigentlich überflüssig und die Videofilme, die Thomas Lippick beisteuert, lassen sich auf den Buchstaben auch nicht perfekt projizieren. Wolf Gutjahr philosophiert dazu im Programmheft: „Wir zeigen Tannhäuser als aktiv handelnden Erschaffer und Urheber einer Welt, in der er sich bewegt. Eine Konstruktion, die er als Welt-Raum in den real existierenden Welt-Ort stellt – wie ein Künstler sein Werk in sein Atelier und dann später in den Ausstellungsraum: Ein Verweis auf die Bühne als Heterotopie des Erarbeitens und des Präsentierens.“
Bielefeld GMD Alexander Kalajdzic lässt die Bielefelder Philharmoniker einen packenden und dramatischen Wagner musizieren. Trotz kleiner Besetzung klingt das Orchester dicht und füllig und in den Vorspielen zu den Akten kann das Orchester starke Akzente setzen. Zudem dirigiert Kalajdzic sehr sängerfreundlich und balanciert das Verhältnis zwischen Bühne und Graben gut aus.
Istvan Kovácsházi bietet in der Titelrolle ein starkes Rollenproträt. Er intoniert mit klarer und kräftiger Heldenstimme und artikuliert bestens. Der Ungar, der in den vergangenen Jahren in Mannheim engagiert war, könnte diese Rolle auch locker an den großen Häusern singen.
Eine starke Elisabeth ist Sarah Kuffner, die sich in Bielefeld aus dem Opernchor bis in die erste Riege der Solisten hochgearbeitet hat. Sie singt mit kräftiger Stimme, die so viel dramatisches Potenzial besitzt, dass man ihr auch eine Sieglinde zutrauen würde. Julia Faylenbogen von der Oper Hannover singt die Venus mit großer und raumfüllender Stimme. Sie gibt der Venus dramatisches Profil, ohne dass sie in irgendwelche schärfen verfällt.
Roman Astakhov ist ein sonorer und seriöser Landgraf, Evgueniy Alexiev klingt als Wolfram zu fahl und verkrampft. Aus der Reihe der Minnesänger ragen noch Daniel Pataky mit schönem lyrischen Tenor als Walther und Moon Soo Park als kantiger Biterolf heraus.
Rudolf Hermes 3.7.15
Bilder Theater Bielefeld