Premiere am 22.09.2018
Realitätsverlust einer alternden Diva
Wenn eine Sache abgeschlossen ist, sagt man oft „Klappe zu, Affe tot”. In der Karriere des einst großen Stummfilmstars Norma Desmond ist die letzte Klappe schon vor langer Zeit gefallen. Nur sie selbst will es nicht wahrhaben, auch wenn sie gerade ihren kleinen Hausschimpansen tränenreich begräbt.
Andrew Lloyd Webbers Musical „Sunset Boulevard“ (nach dem berühmten Film mit Gloria Swanson) führt in das Hollywood der fünfziger Jahre, wo junge Talente auf Arbeits- und Glückssuche sind. Darunter befindet sich auch der total abgebrannte Drehbuchschreiber Joe Gillis, der auf der Flucht vor seinen Gläubigern in der Villa von Norma Desmond landet. Die alternde Diva zwingt ihn geradezu, ihren (grottenschlechten) Drehbuchentwurf zu einem „Salome“-Film zu überarbeiten und vereinnahmt ihn dabei immer mehr. Als sich Joe schließlich zugunsten seiner jungen Kollegin Betty Schaefer aus Normas Fängen lösen will und ihr die ungeschminkte Wahrheit über ihr niemals stattfindendes Comeback ins Gesicht schleudert, wird er von ihr erschossen. In dem Musical erzählt Joe die Ereignisse im Rückblick als „Toter“.
„Sunset Boulevard“ steht etwas im Schatten anderer Werke von Lloyd Webber, nicht zuletzt weil musikalisch wirklich zündende Songs eher sparsam eingestreut sind und die Eingangszenen mit dem retrospektiven Sprechgesang etwas zu lang sind. „Wie immer besteht Lloyd Webbers Partitur nur aus fünf Melodien“, sagt Kapellmeister Ektoras Tartanis, was sicher etwas übertrieben ist. Gleichwohl bietet das Musical eine Story, die stimmig und berührend ist.
Aber das Werk steht und fällt eben doch mit der Besetzung der Norma Desmond und des Joe Gillis. Und da blieben in Bremerhaven mit Sascha Maria Icks uns Vikrant Subramanian keine Wünsche offen. Icks gehört dem Schauspielensemble an und hat z. B. als Edith Piaf begeistert. Stimmlich ist sie nicht unbedingt eine typische „Musical-Röhre“, obwohl sie auch ordentlich aufdrehen kann. Sie singt und spielt dafür aber die Norma Desmond mit feinen, sehr gut austarierten Nuancen. Den Song „Nur ein Blick“ schleudert sie nicht auftrumpfend oder triumphierend-trotzig heraus – bei ihr wird er eher zu einer träumerischen Erinnerung an vergangene Zeiten, ebenso das eindrucksvolle „Träume aus Licht“. Die Attitüde der Diva, die keinen Widerspruch duldet, trifft sie punktgenau. Den fortschreitenden Wahn der alternden Schauspielerin führt sie äußerst überzeugend vor. Und wenn sie sich nach dem Mord in ihr Salome-Kostüm stürzt und sich inmitten von Filmaufnahmen wähnt, kann die Szene schon wohlige Gruselschauer erzeugen. Die Tragik dieser unglücklichen Figur wird mehr als deutlich.
Vikrant Subramanian ist für den Joe eine perfekte Besetzung. Von Anbeginn sind er und die Rolle eins. Seine Gestaltung begeistert durchgängig. Er singt und spielt den verarmten Joe mit burschikoser Leichtigkeit, mit wohldosierter Mischung aus echtem Gefühl und Zynismus („Talent hatte ich letztes Jahr, dieses Jahr habe ich Hunger.“). Mit seinem schlanken Bariton setzt er auch gesangliche Maßstäbe.
Auch Normas Diener Max (der sich später als ihr erster Ehemann und Regisseur Max von Mayerling entpuppt) ist eine tragische Figur. Andrea Matthias Pagani hat mit der Rolle reichlich Erfahrung. Das ist in jeder Phase seiner anrührenden Darstellung spürbar. Hinter seiner scheinbaren Unnahbarkeit verbirgt er seine tiefe Verbundenheit mit Norma und seine Sorge um ihre psychische Zerbrechlichkeit. Patrizia Häusermann bringt als Betty Schaefer sympathische und erfrischende Jugendlichkeit in ihre Rolle. Sehr hübsch gelingt ihr Duett „Denn wir lieben uns viel zu sehr“ mit Joe. Der Chor hat hier überwiegend solistische Aufgaben. Fast jede Sängerin und jeder Sänger übernimmt eine der vielen kleinen Rollen
Die Inszenierung von Ansgar Weigner ist ein Volltreffer. Die überdrehte Filmwelt Hollywoods mit Leo Yeun-Ku Chu als Cecile B. DeMille im Zentrum wird ebenso getroffen wie Normas Einsamkeit in ihrer ehemals prunkvollen, inzwischen etwas heruntergekommenen Villa. Diese ist von Bühnenbildnerin Barbara Bloch (die auch für die stimmigen Kostüme verantwortlich zeichnet) eindrucksvoll und opulent ausgestattet. Mittels Drehbühne und verschiebbaren Wänden werden immer neue Schauplätze imaginiert.
Ironische Tupfer wie die Neueinkleidung von Joe oder die Fitness-Torturen von Norma werden gekonnt gesetzt. Aber vor allem ist Weigner eine feinsinnige Personenführung gelungen, die den Absturz von Norma Desmond beklemmend nachvollziehbar macht. Ballettszenen gibt es nur wenige (Choreographie von Lidia Melnikova), die dann aber schwungvoll und gelungen sind.
Ektoras Tartanis am Pult des Philharmonischen Orchesters Bremerhaven lässt die süffige Musik von Lloyd Webber geradezu aufblühen. Die Widerholungen mancher Motive werden gekonnt aufbereitet. Der konsequent durchgehaltene musikalische Fluss garantiert eine Wiedergabe ohne Brüche oder Stillstand. Eine Eröffnungspremiere, wie sie besser und fesselnder nicht sein könnte.
Wolfgang Denker, 23.09.2018
Fotos von Manja Hermann