(The Lodger)
Premiere am 02.06.2018
Opern-Thriller mit wohligem Gruseleffekt
Am Ende der Saison soll man es doch einmal betonen: Das Stadttheater Bremerhaven ist in Sachen Spielplangestaltung vorbildlich. Neben populären Opern (wie in dieser Spielzeit etwa „Rigoletto“ und „Der Liebestrank“) finden sich auch immer eher selten gespielte Werke („Der Konsul“) oder absolute Neuentdeckungen. Diesen Status kann „Der Untermieter“ („The Lodger“) von der britischen Komponistin Phyllis Tate (1911-1987) ohne Einschränkung für sich beanspruchen.
„Der Untermieter“ basiert auf dem 1913 erschienen Roman von Marie Belloc Lowndes, der im viktorianischen London spielt und sich um Jack the Ripper dreht.. Alfred Hitchcock hat ihn als Vorlage für seinen Stummfilm „The Lodger“ (1927) verwendet. Dort allerdings erweist sich der Verdacht gegen den Mieter, dass er in Wirklichkeit Jack the Ripper ist, als falsch. Die Änderung wurde vorgenommen, weil der Hauptdarsteller Ivor Novello keinen Bösewicht spielen wollte. Ein weiterer Film entstand 1944 mit Laird Cregar in der Regie von John Brahm. Der nichtssagende deutsche Titel war „Scotland Yard greift ein“.
Phyllis Tate ließ sich von dem Roman zu ihrer Oper „The Lodger“ inspirieren. Sie wurde 1960 in London an der Royal Academy of Music von Studenten uraufgeführt und geriet danach völlig in Vergessenheit. 1964 entstand allerdings eine Einspielung der BBC u. a. mit Owen Brannigan, Joseph Ward und Alexander Young, die erst 2015 auf CD erschienen ist.
Bremerhaven präsentierte nun nicht nur die deutsche Erstaufführung, sondern hat sehr verdienstvoll auch eine deutsche Textfassung erarbeitet. Aber der Aufwand hat sich in jeder Hinsicht gelohnt, denn „Der Untermieter“ ist ein durch und durch fesselndes Werk mit einer suggestiven Musik, deren Wirkung in der herausragenden Inszenierung von Sam Brown noch gesteigert wird.
Bei dem geheimnisvollen Mieter, der sich im Haus von Emma und George Bunting einquartiert hat, handelt es sich um niemand anderen als Jack the Ripper. Emma ahnt schon bald, wer da in ihrem Haus lebt, aber sie geht nicht zur Polizei. In ihren Augen ist Jack kein Monster, sondern ein Mensch, der ärztliche Hilfe benötigt. Deshalb lässt sie ihn auch am Ende entkommen, weil Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe die wichtigsten Dinge sind.
Regisseur Sam Brown und seine Ausstatterin Julia Przedmojska (Bühne und Kostüme) zaubern äußerst eindrucksvoll die düstere Atmosphäre vom viktorianischen London auf die Bühne. Durch immer neue Anordnungen der kastenförmigen Bühnenelemente wird das Wohnzimmer der Buntings, die Treppe zur Dachkammer des Untermieters, ein Wirtshaus oder eine Straßenansicht gezeigt – alles in stilechter Ausführung. Auch der (dezent eingesetzte) Londoner Nebel darf nicht fehlen. Und Sam Brown sorgt mit seiner Personenführung und Charakterisierung für nie nachlassende Spannung. „Der Untermieter“ ist ein Opern-Thriller mit wohligem, aber keineswegs vordergründigem Gruseleffekt.
Die Musik von Phyllis Tate ist nicht nur durchweg wohlklingend, sondern auch äußerst raffiniert und kunstvoll gearbeitet. Sie nimmt den fließenden Duktus der Sprache unmittelbar auf und erinnert an Britten oder Menotti. Es gibt aber auch Arien, eine Liebesduett zwischen Daisy, der Tochter der Buntings, und dem Polizisten Joe, einen in immer groteskerer Form wiederholten Chor der Betrunkenen (Einstudierung Mario Orlando El Fakih Hernández) mit Hartmut Brüsch als Kneipenpianist und im Finale des 1. Aktes eine umwerfende Ensembleszene. Allein dieses Quintett zeigt schon die Meisterschaft von Tate. Im Orchestersatz verdeutlicht sie im Grummeln der tiefen Streicher die schleichende Bedrohung und Unheimlichkeit. Ektoras Tartanis und das Philharmonische Orchester Bremerhaven setzen diese Musik mit kraftvollen Akzenten und eindringlich um – noch besser als in der CD-Aufnahme der BBC von 1964.
Patrizia Häusermann ist mit ausdrucksstarkem Mezzo als Emma die zentrale Figur. Leo Yeun-Ku Chu beeindruckt mit machtvollem Bass (und hervorragender Diktion) als George, Alice Fuder als Daisy und MacKenzie Gallinger als Joe repräsentieren quasi das Buffo-Paar. Als gespaltener Charakter zwischen oberflächlicher Freundlichkeit und religiösem Wahn bis zur Selbstgeißelung überzeugt Bariton Vikrant Subramanian in der Titelpartie stimmlich und darstellerisch ohne Einschränkung.
Wolfgang Denker, 03.06.2018
Fotos von Heiko Sandelmann