Bericht von einer persönlichen Kapitulation. Wer auf der Tribüne im Semper Depot in der elften Reihe sitzt, vor sich eine Phalanx riesiger Köpfe, die jeden Blick auf die Bühne unmöglich machen… Wer vergeblich versucht, durch Drehen und Wenden wenigstens einen schmalen Ausschnitt des Geschehens zu erhaschen, aber von den anderen herumwackelnden Köpfen stets ausgehebelt wird… Wer, da er kein Wort des Gesungenen versteht, wenigstens den Text mitlesen will, dies aber nicht kann, weil der relativ kleine Monitor mit der Übersetzung unten rechts neben der Bühne steht und folglich auch von den Köpfen verdeckt wird…
… der wird sich schwertun, etwas über die Premiere der Oper „Kapitän Nemos Bibliothek“ von Johannes Kalitzke durch die Neue Oper Wien auszusagen, wie es sein Beruf wäre. Zugegeben, man hat – zeitlich gedrängt – sowohl die Einführung versäumt wie auch keine Zeit gefunden, das Programmheft zu lesen, aber das sollte ja keine unabdingbare Voraussetzung für einen Opernbesuch (und dessen Verständnis) sein. Wohl aber im Gegenzug, nur Plätze anzubieten, von denen man auch die Bühne sieht.
Nun weiß man, was man sich flüchtig angelesen hat – Johannes Kalitzke. Geboren 1959 in Köln. Im Theater an der Wien hat man 2010 von ihm die Uraufführung der Oper „Die Besessenen“ nach dem Roman von Witold Gombrowicz gesehen.
Sein jüngstes Werk, eine Auftragsarbeit der Schwetzinger Festspiele in Zusammenarbeit mit den Bregenzer Festspielen, 2022 an beiden Orten gespielt, hat wenig mit Jules Verne zu tun, sondern basiert auf einem Roman des Schweden Per Olov Enquist. Der Theaterfreund erinnert sich sofort an mehrere von ihm in Wien gespielte Stücke, das war allerdings im vorigen Jahrtausend.
Es geht um zwei Jungen, die bei der Geburt vertauscht wurden und, als man es entdeckt, im Alter von sieben Jahren zurückgetauscht werden. Selbstverständlich große Katastrophe, von der man nichts mitbekommt, wenn man nicht auf die Bühne sehen kann, keine Ahnung, wie Kapitän Nemos Bibliothek mitspielt, nur im zweiten Teil sieht man ganz oben auf der Bühne abschnitten einige Videos, hässlich, blutige Augen, und am Ende scheint es zu brennen.
Sorry, mehr war von meinem Platz nicht zu erkennen, keine Ahnung von der Geschichte, die offenbar mit Puppen verdoppelt wurde (was wir ja von Habjans Dauerpräsenz gewohnt sind, auch wenn er hier nicht dabei war). Keine Ahnung auch, wie Regisseur Simon Meusburger die Geschichte erzählt hat.
Aber es ist Oper, man hat schließlich noch die Musik. Die klingt vor allem in einigen orchestralen Passagen recht interessant und spannend, während die Behandlung der Singstimmen schmerzt: Man erkennt einen Countertenor und einige weibliche Stimmen, die in unschöne in höchste Höhen gejagt werden. Mehr vermag man über die Interpreten nicht zu sagen – Ray Chenez, Ewelina Jurga, Elena Suvorova, Wolfgang Resch und Misaki Morino stehen auf dem Programmzettel. Und natürlich der in seinen Ambitionen nie nachlassende und dafür so wenig belohnte Dirigent Walter Kobéra, der mit dem amadeus ensemble-wien seines Amtes waltete.
Hätte man etwas von der Bühne gesehen. Hätte man den Text mitlesen können. Hätte man folglich die Musik und die Handlung zusammenbringen können – vielleicht hätte man verstanden, was da gezeigt wird, wie es geschieht und ob es überzeugt. Der Applaus des Premierenpublikums klang ein wenig, als wären alle Verwandten aller Beteiligten im Zuschauerraum.
Man hätte gerne gewusst, was da los war. Aber auf den „billigen Plätzen“ hatte man keine Chance.
Renate Wagner, 12. April 2023
Neue Oper Wien
Kapitän Nemos Bibliothek
Johannes Kalitzke
Besuchte Wiener Premiere: 11. April 2023
Regisseur: Simon Meusburger
Dirigent: Walter Kobéra
amadeus ensemble