Nicht schon wieder, denkt man beim Betreten des Zuschauersaals mit dem Blick auf die offene Bühne. Nicht schon wieder leere, schmucklose Wände im Geviert, dazu die obligaten Stühle, hier in zwei symmetrischen Reihen aufgestellt, die ganze Bühnentiefe bis zur Rückwand ausnutzend. Es fehlt nur noch eine Uhr an der Wand und man hätte alle Grundingredienzen zeitgenössischer Musiktheaterbühnenästhetik auf der Bühne des Opernhauses vereint. Andrew Liebermanns Bühnenbild löst also erstmal leichte Verstimmung aus – doch mit dem ersten, so unfassbar tragisch aufgeladenen Tutti-Akkord aus dem Orchestergraben stellt sich beim Betrachter ein Wow – Effekt ein, die Aufführung gerät zum spannungsgeladenen Ereignis.
Der Regisseur Ted Huffman und der Choreograf Pim Veulings lassen das kurze Vorspiel mit der dramatischen, langsamen Einleitung und dem anschliessenden Fugato des Orchesters mit einer atemberaubenden, fesselnden Exaktheit ablaufen, führen über zur an das griechische Tragödien-Vorbild angelehnten Introduktion durch den statisch kommentierenden Chor (inklusive aller Darsteller der Einzelrollen). Das ist dermaßen packend gemacht, dass man sofort in Gounods kongeniale Vertonung des unsterblichen hereingezogen wird – und darin beinahe atemlos verharrt. Huffman sieht das Ganze als eine Geschichte aus dem amerikanischen Umfeld (vielleicht der Südstaaten oder des Mittleren Westens) der 50er Jahre. Konservativ, patriarchal geprägt, der leere Raum mit den taubenblauen Wänden könnte durchaus das Versammlungslokal einer kirchlichen Gemeinschaft darstellen. Hier findet der die Oper eröffnende Ball statt (Huffman spricht im Interview von der Tradition des amerikanischen Cotillions, bei welchem Debütantinnen in die Gesellschaft eingeführt wurden). Graf Capulet fungiert als Zeremonien- und Tanzmeister, lässt die Gäste seines Balles auf den Stuhlreihen Platz nehmen, die Damen rechts, die Herren links und führt die Paare für den eröffnenden Walzer zusammen.
Mit wunderbar sattem Bass singt David Soar diese autoritär-patriarchale Vaterfigur. Huffmans phänomenale Personenführung lässt sich bereits in dieser Eröffnungsszene beobachten (noch intensiver erlebt man sie, wenn man sich die Aufzeichnung der Premiere auf ARTE mit ihren vielen Nahaufnahmen ansieht). Nach und nach führt Gounod die Protagonisten ein, den Grafen Paris (mit sonorem, vollem Bass-Bariton Andrew Moore), Tybalt, Juliette, die Amme (mit beeindruckender Bühnenpräsenz und warmem Mezzosopran: Katia Ledoux), Roméo, Mercutio, Stéphano, Gregorio (eine Entdeckung, der mit herrlich timbriertem Bariton ausgestattete Jungrae Noah Kim), Benvolio (leider wenig zu singen, aber mit schöner Tenorstimme verkörpert von Maximilian Lawrie) – und trotz der quasi identischen Kostüme, entworfen von Annemarie Woods (schwarze Hosen, weiße und schwarze Sakkos und vereinzelt Uniformen für die Männer, elegante 50er-Jahre-Roben und auftupierte Frisuren für die Frauen), werden die Charaktere wunderbar differenziert herausgearbeitet.
Hervorragend integriert in den Reigen der Protagonisten sind die vier Tanzpaare, die dann auch im dritten Akt bei der Kampfszene eine wichtige Rolle spielen werden. Für die Akt-Überleitungen wendet Huffman oftmals das System des „Freezing“ an, d.h. er lässt die Figuren auf der Bühne in den Stellungen des Aktschlusses verharren und löst die Positionen erst nach und nach zu den Einleitungstakten des nachfolgenden Aktes auf. Gekonnt! Dabei fungieren Chor und Solisten auch als Inneneinrichter, da sie überzählige Stühle wegtragen oder die verbleibenden neu arrangieren. Das ist auch notwendig, denn die Rückwand fährt im Verlauf der Aufführung beinahe unmerklich, aber unerbittlich nach vorne, engt den Spielraum mehr und mehr ein, symbolisiert eine Unentrinnbarkeit des Verlaufs des tragischen Geschehens und kippt das sterbende Liebespaar am Ende beinahe in die Gruft des Orchestergrabens. Faszinierend! Das Lichtdesign von Franck Evin wendet oftmals auch die Schattenwurftechnik auf die leeren Wände an, Bedeutung schwanger gemeint, oftmals aber auch etwas manieriert und nicht gerade sinnfällig oder gar menetekelhaft wirkend.
Einmal mehr begeistert Omer Kobiljak mit seinem hellen, höhensicheren und druchschlagskräftigen Tenor als die Ehre der Familie verteidigender, intriganter und provozierender Tybalt. Der Bariton Yuriy Hadzetskyy gestaltet mit Humor und wunderbar schmiegsamer Stimme als Mercutio die Ballade de la Reine Mab, ein präzises musikalisches Kleinod, neben Juliettes Walzer und Stéphanos die Capulets herausforderndem Chanson mit den maziziösen Parabeln aus der Vogelwelt die einzige Auflockerung im sich tragisch zuspitzenden Konflikt. Dieses Chanson von Stéphano wird von der Mezzosopranistin Svetlina Stoyanova mit dermaßen agiler Stimme, brillanter Technik und entwaffnendem Schalk vorgetragen, dass sie sich damit endgültig in die Herzen des Zürcher Publikums singt. BRAVA! Valeriy Murga verdammt als Herzog von Verona mit der gebotenen Autorität den armen Roméo ins Exil. Brent Michael Smith ist ein sehr junger (blendend aussehender) Frère Laurent, der mit balsamischem Bass viel Empathie für das junge Liebespaar erkennen lässt – und doch mit dem „Gift“, das Juliettes Scheintod bewirkt, die Kulmination im tragischen Tod von Roméo und Juliette herbeiführt.
Mit der Besetzung der beiden Hauptpartien wird die Aufführung im Opernhaus Zürich zum ganz großen Ereignis: Benjamin Bernheim und Julie Fuchs hatten beide den Erfolg ihrer sie mittlerweile an alle bedeutenden Opernhäuser führenden Karrieren im Opernhaus Zürich begründet, er zuerst mit kleinsten Nebenrollen (ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass ich von Beginn weg seine strahlende Stimme lobte und immer fand, dass er in der Ära Pereira unter seinem Wert besetzt wurde), sie im Barockrepertoire, als Marzelline, dann mit grossen Partien in Buffa-Opern von Rossini und Donizetti.
Benjamin Bernheim ist wohl der Roméo unserer Zeit (und überhaupt der führende Tenor im Repertoire der französischen Oper des 19. Jahrhunderts), ja wenn nicht gar der letzten 70 Jahre. Seine Stimme scheint keine Grenzen zu kennen, bleibt stets geschmeidig, verengt sich in der Höhe nie, ja breitet sich gar noch aus. Stets klingt das alles unforciert, mit großem Atem gesungen, elegant, bruchlos – einfach ein Traum. Ich behaupte mal, dass er „schöner“ und freier klingt als berühmte Rollenvertreter des letzten Jahrhunderts wie Alfredo Kraus oder Neil Shicoff, die beide bei aller unbestrittener Gesangskunst (mit Verlaub) in der Höhe zu Verengungen und leicht quetschigen Tönen neigten. Zudem ist Benjamin Bernheim ein ausgezeichneter, lebensechter Darsteller, zeigt die Unbeholfenheit und Verlegenheit des Grossmauls Roméo, wenn es in Liebesdingen zur Sache gehen soll, ist Lausbub und unsterblich Verliebter in einem. Seine Arien sind von bezwingender Eindringlichkeit, seine Piani von atemberaubender Schönheit (wie er seine aus wenigen zarten Tönen bestehenden Kantilenen nach der Balkonszene – die es so in dieser Inszenierung selbstredend nicht gibt – auf das Fundament des Orchesters legt, welches eine Reminiszenz des Nocturnes intoniert, ist schlicht zum Dahinschmelzen berührend). In den Ensembles brilliert er mit Durchschlagskraft und die vier ausladenden und das musikdramaturgische Fundament der Oper bildenden Duette mit Julie Fuchs sind sowieso nicht von dieser Welt.
Julie Fuchs beginnt als Juliette den Abend mit einer bezaubernden, quirligen Ariette, steigt dann ein in die große Walzerarie Je veux vivre, welche sie mit herrlichen, fein tarierten Glöckchen Klängen ausstattet, bezaubernd gesungen und mit feinem, zartem Vibrato umflort. Julie Fuchs spielt das junge Mädchen an der Schwelle des Erwachsenseins mit freudiger Anmut, auch mit Witz und der Überlegenheit in Reife, die das weibliche Geschlecht in dem Alter (meistens) auszeichnet. Gerade das dritte Duett der beiden Nuit hymenée im vierten Akt ist eine vokale und darstellerische Offenbarung, dieser Wechsel zwischen Leidenschaft, Verzweiflung und Vorsicht (alouette -rossignol, jeder Partner nimmt mal die Position des Ängstlichen und des Optimisten ein). Juliettes grosse zweite Szene und Arie Dieu! Quel frisson court dans mes veines! ist weniger populär als das Je veux vivre doch bietet diese große Szene der Sängerin erheblich mehr Möglichkeiten, in die Seele der jungen Frau einzutauchen – und Julie Fuchs macht das mit bezwingender Kraft, das ist der helle Wahnsinn an Ausdruckstärke und gesanglicher Souplesse.
Der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor der Oper Zürich klingt in der Introduktion und im Ball Akt mit aufrüttelnder, ausdrucksstarker Intensität und begleitet die Kampfszene des dritten Aktes und das tragisch aufwallende Finale dieses Aktes sowie den (vermeintlichen) Tod Julias mit durchdringenden Einwürfen.
Roberto Forés Veses zeigt am Pult der herausragend spielenden Phiharmonia Zürich, dass Gounods geniale, einst so erfolgreiche Partitur unbedingt öfters mal auf die Spielpläne der Opernhäuser gehört. Das Orchester und der Dirigent gehen das Werk laut (aber in keinem Moment die Sänger in Bedrängnis bringender Lautstärke), zügig und mit unter die Haut gehender Eindringlichkeit an. Die karge Bühne hat sich mit faszinierender, fesselnder Dramatik und ausruckstarker, in intensiven Farben malender Musik gefüllt. Bitte hingehen!
Kaspar Sanneman, 16. April 2023
Charles Gounod: Roméo et Juliette
Opernhaus Zürich
Premiere am 13. April 2023
Regie: Ted Huffman
Choreographie: Pim Veulings
Dirigat: Roberto Forés Veses
Phiharmonia Zürich