Jessye Norman, die so einzigartige Sängerin, zog wie kaum eine andere Künstlerin ihrer Generation in ihren Bann. Alles an ihr war außergewöhnlich. Eine Stimme, die problemlos in ihrer besten Zeit durch alle weiblichen Stimmlagen singen konnte mit einem so besonderen Wiedererkennungswert. Die Stimme war üppig und sinnlich timbriert. Außergewöhnlich war ihr Sprachempfinden. Ihr Gesang war von hoher Textverständlichkeit und geistiger Durchdringung geprägt.
Nach einer gigantischen Weltkarriere zwangen sie gesundheitliche Probleme zur Aufgabe ihrer gesanglichen Aktivitäten. Als die große Sängerin im September 2019 starb, war die Trauer in der Musikwelt groß. In Würdigung ihres Angedenkens gab die Familie der Sängerin nun Aufnahmen frei, die erstmals von Decca in einer 3CD-Box veröffentlicht wurden.
Nun haben die Gerüchte ein Ende. Hartnäckig wurde berichtet, dass Jessye Norman die Isolde aufgenommen habe. Solti wollte mit ihr und Domingo eine Gesamtaufnahme realisieren, wozu es nie kam. Hin und wieder sang sie den Liebestod. Einmal sang sie mit Jon Vickers den zweiten Aufzug unter der Leitung von Seiji Ozawa 1981 in Boston. Erst 1998 kam es zu intensiven Aufnahmetagen in Leipzig mit dem Gewandhausorchester und Kurt Masur. An ihrer Seite sangen Thomas Moser als Tristan, Hanna Schwarz als Brangäne und Ian Bostridge als junger Seemann.
Die Aufnahme von „Tristan und Isolde“ wurde nicht komplettiert, da die so selbstkritische Norman bemerkte, dass sie ihren Qualitätsanforderungen nicht mehr vollends entsprechen konnte. Isolde ist eine Partie für einen hochdramatischen Sopran, was Norman niemals war. Auch war die extreme Höhe nie die beste Zone, in welcher sich ihre Stimme am wohlsten fühlte. Diese Auszüge sind dennoch aus vielen Gründen überaus kostbar. Zu erleben ist eine Diva mit kleinen stimmlichen Rissen, die jedoch mit der Dramatik der Partie gut korrespondieren. Mancher hoher Ton ist deutlich angestrengt und auch die Intonation ist zuweilen unstet, aber dadurch ist Normans Isolde eben keine Kunstfigur, sondern ein leidenschaftlicher Mensch. Es ist eben diese Verletzbarkeit, die ihre Isolde so nahbar und menschlich erscheinen lässt. Wie gut konnte Jessye Norman einen Charakter zeichnen. Ihre Intensität ist herausragend und ihr Gespür für Farben ist in jedem Takt omnipräsent. Im Liebesduett ist der schlank und musikalisch singende Thomas Moser als Tristan an ihrer Seite. Auch er ist kein dramatischer Tenor. Der kluge Sänger ließ seiner Stimme die notwendige Zeit, um in Ruhe zu reifen. Somit ist ein Tristan zu hören, der mit schöner Stimmfarbe gut mit Jessye Norman harmoniert. Selten ist das lange Liebesduett in solch zelebriertem Edelklang von beiden Protagonisten zu hören. Hanna Schwarz bringt einmal mehr ihre langjährige Erfahrung als engagiert singende Brangäne ein. Mit großer Sinnlichkeit und üppiger Tongebung gestalten Masur und Norman einen Liebestod in größter Schönheit.
Auf der zweiten CD gibt es noch einmal Wagner und Richard Strauss. Die „vier letzten Lieder“ mit Jessye Norman und Kurt Masur aus dem Jahr 1982 gehören zur absoluten Referenz für dieses Werk. Ein musikalisches Denkmal für alle Ewigkeit. Im Kontrast dazu ist eine Live-Aufnahme von 1989 mit den Berliner Philharmonikern und James Levine zu erleben. Ein spannender Vergleich, denn Levine lässt die Philharmoniker üppig aufspielen und bereitet seiner Diva eine maximal prominente Klangbühne. Einmal mehr zeigt sich auch hier seine perfekte Sängerbegleitung. Noch immer ist die Faszination groß, zu hören, mit welch perfekter Atemkontrolle und Stimmführung Jessye Norman diese Preziosen mit ihrer einzigartigen Stimme veredelt. In einer weiteren Live-Aufnahme aus dem Jahr 1992 begleiten die Berliner Philharmoniker und James Levine bei Wagners Wesendonck-Liedern. Im Ausdruck tief bis auf den Seelengrund kreierte Norman eine Aura, der sich kein Zuhörer entziehen kann. Die Stimme leuchtet und umschmeichelt in cremigen Farben in den einzelnen Liedbeiträgen. Bereits 1975 dirigierte Sir Colin Davis eine Aufnahme mit ihr. Doch diese spätere Aufnahme fasziniert eindeutig mehr durch gereifte Bedeutungstiefe.
Ein bevorzugter Dirigent von Jessye Norman war der langjährige Chefdirigent des Boston Symphony Orchestras, Seiji Ozawa. Die letzte CD dokumentiert eine Live-Aufnahme von 1994 mit einem Programm für „Königinnen“. Zu hören sind Joseph Haydns „Scena di Berenice“, von Hector Berlioz „Cléopâtre“ und Benjamin Brittens „Phaedra“. Wie stilsicher und formvollendet konnte Jessye Norman diese so unterschiedlichen Frauengestalten porträtieren. In schlanker Lyrik ist sie als Berenice zu erleben. Im stimmlichen Großformat und nobler Klanggestaltung entsteht Cléopâtre, während Brittens Phaedra sehr deklamatorisch gestaltet wurde. Seiji Ozawa und das Boston Symphony Orchestra sind fabelhafte Begleiter.
Eine kostbare Veröffentlichung in liebevoller Aufbereitung ehren eine der größten Sängerinnen der letzten Jahrzehnte. Sehr empfehlenswert.
Dirk Schauß, 17. April 2023
Jessye Norman
The Unreleased Masters
1.CD (Studioaufnahme) – Richard Wagner: Tristan und Isolde(Auszüge / Jessye Norman, Thomas Moser, Hanna Schwarz, Ian Bostridge, Gewandhausorchester Leipzig, Kurt Masur)
2.CD (Live-Aufnahmen) – Richard Strauss: Vier letzte Lieder; Richard Wagner: Wesendonck-Lieder (Jessye Norman, Berliner Philharmoniker, James Levine)
3.CD (Live-Aufnahmen) – Joseph Haydn: Scena di Berenice; Hector Berlioz: Cleopatre; Benjamin Britten: Phaedra op. 93 (Jessye Norman, Boston Symphony Orchestra, Seiji Ozawa)
Decca 485 2984