Ballettabend mit, von Jiri Kylian speziell für die Essener Compagnie individuell zusammengestellten, Werken von substanzieller Vielfalt
5 Inseln eines einzigartigen Archipels brillanten Tanztheaters
Jiri Kylian (Bild oben) gehört zu den bedeutendsten Choreografen der Gegenwart. Ballettchef Ben van Cauwenbergh präsentiert nun am Aalto eine Art "Best of Kylian", wobei die ungeheure Vielfalt des Choreografen und die wahnsinnige Bandbreite seines zeitgenössischen Tanztheaters – von zarter Poesie über quasi Experimentelles bis hin zum großen Tanz und dessen humorvoller Karikatur – geradezu exemplarisch dargeboten wurde. Kaum eine Compagnie scheint dazu qualifizierter zu sein, als die des Essener Aalto Balletts und der nicht enden wollende Jubel nach der Premiere bewies es nachhaltig. In Essen wird also neben tollem Handlungsballett (zuletzt "Der Nussknacker") auch modernes Tanztheater geboten, welches ebenso wie die klassische Präsentation ein breites Publikum begeistern kann.
Kylian kann man in Analogie zu einem trivialen Popmusik-Komponisten und Vermarkter durchaus berechtigt mit dem Begriff "Ballett-Titan" schmücken. Seine Karriere und Ausbildung begann schon mit 15 am Prager Konservatorium, dann folgte die legendäre Royal Ballett School in London; John Cranko in Stuttgart erkannte sofort die Qualitäten dieses Ausnahme-Tänzers und holte ihn nach Stuttgart, wo er schon erste choreografische Wege zeitigte. 1973 folgte seine erste Arbeit für das Nederlands Dans Theater, deren künstlerischer Direktor er von 1975-99 war, und für die er im Laufe dieser Zeit 74 Ballette kreierte.
Einen ganz wichtigen Akzent setzte er 1978 mit der Gründung des NDT 2. Dieses bot und bietet noch heute klassisch ausgebildeten Tänzern von 17-22 Jahren eine Fortbildung und Weiterentwicklung unter professioneller Anleitung und Schulung, auch um sich für die Aufnahme ins große NDT vorzubereiten.
Ruhm und Anerkennung folgten auf den Fuß. Den bedeutendsten Orden der Niederlande, jenen "Orde van Oranje Nassau“ (Anmerkung: so etwas wie in England die Verleihung des Adelstitels durch die Queen) verlieh ihm am 13. April 1995 Königin Beatrix. Diverse weitere Ehrungen und Medaillen zieren seinen Lebensweg. Über die Jahre hat Kylian einen eigenen persönlichen Stil entwickelt und bedeutende Choreografen nach ihm durchaus beeinflusst.
Jiri Kylian war auch immer ein Mitdenkender, ein Mitfühlender seiner Zeit. Er sandte, wenn es nötig wurde, politische Botschaften aus, so z.B. sein Gastspiel beim "Prager Frühling, 1982" oder sein Einsatz und Wirken für die australischen Ureinwohner, die Aborigines.
"Inspiration findet sich überall. Wenn man ein offenes und feinfühliges Wesen ist, findet man Inspiration an jeder Ecke seines Lebens. Choreografen beziehen ihre Inspiration jedoch hauptsächlich aus der Musik. Sie ist die Kunstform, die dem Tanz am nächsten kommt. Inspirationsquellen sind unendlich… Aus meinen 100 Stücken traf ich für Essen eine ziemlich herausfordernde Wahl, die mein Schaffen in seiner ganzen Vielschichtigkeit repräsentiert, die dem Interesse der Tänzer entspricht, und die schließlich den Essener Zuschauern einen Abend von substanzieller Vielfalt verspricht." (Jiri Kylian zum Essener Abend)
Wings of Wax
Inspiriert ist das Stück von der mythologischen Geschichte über Daedalus und Ikarus, die versuchten, mit Wachsflügeln ihrer Gefangenschaft auf Kreta zu entkommen. Das Ergebnis ist bekannt. Jiri Kylian überträgt hier nun die urmenschliche Sehnsucht nach Freiheit auf seine Choreografie, wo die Tänzer überwiegend durch Sprünge und Hebefiguren die Schwerkraft außer Gefecht setzen wollen. Bühnenbildner Michael Simon hat einen verdörrten Baum entworfen, der im Zentrum der Bühne verkehrt herum, also mit der Krone nach unten, hängt – Symbol für die Aufhebung der Schwerkraft. Um dieses Konstrukt kreist ein einzelner großer Bühnenscheinwerfer, mal schnell, mal langsam, je nach musikalischem Tempo des Tanzes. Das hat alles eine beeindruckende optische Qualität. Musikalisch ertönen dazu die Excerpts aus Glass‘ "Streichquartett Nr. 5", Heinrich Ignaz Franz Bibers "Rosenkranzsonate für Violine solo" und Johann Sebastian Bachs "Goldberg-Variationen".
27′ 52“
Dieses Ballett ist völlig abstrakt gehalten. Mit dem Titel wird auf die Dauer des relativ düster wirkenden Stückes angespielt. Die Musik, wenn man das überhaupt so nennen kann -Komponist: Dirk Haubrich – ist recht sperrig und nicht leicht zu rezipieren, handelt es sich doch um ein Konglomerat aus Sprachfetzen und Teilsätzen (dazu sphärische Klänge und hallende Geräusche) die von der originalen Tanzbesetzung 2002 eingesprochen wurden und dann vorwärts und rückwärts in diversen Tempovariationen bearbeitet, ertönen. Irgendwie wirkt das Ganze so genial, wie zum Ende hin aber auch grenzwertig langweilig. Immerhin erleben wir begnadete Tänzer, die originelle Bewegungsformen in faszinierender Dichte und Körpersprache offerieren. Wenn sich die Künstler im Finale auf und unter den mobilen Pegulan-Bühnenboden gelegt haben, fallen diverse Tücher (die in einer viel zu langatmigen Übergangspause vorher von einem Heer von Bühnenarbeitern umständlich befestigt worden waren) nacheinander aus dem Schnürboden herab und hinterlassen die Bühne in einem ungeordneten Chaos. Großer Beifall, das Publikum schien geradezu hingerissen…
Petite Mort
war in Essen bereits 2012 ("Zeitblicke" – zusammen mit zwei weiteren Stücken von Patrick Delcroix und Christopher Bruce) präsentiert worden. Der Titel stellt einen Bezug zur Musik Mozarts dar, dem Adagio aus dem Klavierkonzert A-Dur und dem Andante aus seinem Klavierkonzert C-Dur. Grandios und hochoriginell lässt Kylian die sechs Tänzer anfangs mit und um einen Degen tanzen, dav´bei wird der Degen auch zum verblüffend beweglichen Requisit. Mit einem großen Tuch, welches die Tänzer über die Bühne ziehen, zaubern sie quasi (ein schöner Effekt) die Frauen herbei. Später rollen diese fast schwebend (noch ein verblüffender Bühnen-Effekt!) hinter Schneiderpuppen mit weiten, ausladenden dunkelblauen Rokokokostümen über die Bühne, lugen seitlich hervor oder verstecken sich dahinter. Das hat witzigen, schon fast kindischen Humor, aber überzeugt. Sicherlich das stärkste und unterhaltsamste Ballett des Abends.
BIRTH-DAY
In der Umbaupause vor dem letzten Stück gibt es das, zumindest für den Rezensenten, vielleicht Witzigste, was je in Form eines Kurzballetts (auch noch in humoriger Slapstick Form) geschaffen wurde. Eine Stück, das Kylian auch als Meister der filmischen Umsetzung zeigt, denn während der Film mit den Tanzelementen eigentlich viel zu schnell abläuft (Reminiszenz an das Stummfilmkino "als die Bilder laufen lernten") ertönt Mozart im Originaltempo. Dabei passt alles auf die hundertstel Sekunde zusammen und die Tänzer werden auf dem Trampolinbett zu scheinbar lebenden Gummikugeln. GsD ist auf Youtube dieses einmalige Spektakel präsent. Bitte unbedingt anschauen !
Sechs Tänze
choreografiert zu Mozarts "Deutschen Tänzen", ist eine Parodie auf verstaubtes Rokoko – geradezu eine Staub und Puderorgie. Dabei treten alle Tänzer mit weißen Perücken auf und verteilen bei ihren schnellen Bewegungen bzw. durch Antippen oder Düppen der Frisur des Partners reichlich Magnesiapulver auf der Bühne. Auch die dunkelblauen Rokokokostüme und die Degen aus dem vorherigen Stück tauchen wieder auf. Was für herrliche, leider viel zu kurze Sequenzen. Und wenn am Ende dann Seifenblasen aus dem Schürboden auf die Tänzer herabschweben, möchte man "Da Capo!" rufen, denn dieses Stück war viel zu schnell vorbei.
Fazit: Was für ein kongenialer Tanzabend – was für eine Vielfalt des Tanztheaters! Die Tänzerinnen und Tänzer der Essener Compagnie bewiesen an diesem wirklich toll begeisternden Abend nachhaltig, daß sie zu den Top-Ensembles in Deutschland gehören und jede noch so weite Anreise vom Kritiker als absolut lohnenswert empfohlen werden kann.
Peter Bilsing 24.4.16
Bilder (c) Essen.de / Aalto Ballett
P.S.
Sehenswert sind die hochprofessionell in HiFi Tonqualität produzierten Videos
Produktionsteam
Choreographie: Jiří Kylián
Kostüme: Joke Visser
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Wings of Wax
Bühnenbild: Jiří Kylián (Konzept), Michael Simon
Licht: Michael Simon (Konzept), Kees Tjebbes
Tänzerinnen und Tänzer: Yulia Tsoi, Tomáš Ottych, Ana Carolina Reis, Liam Blair, Mariya Tyurina, Wataru Shimizu, Yusleimy Herrera León, Breno Bittencourt
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27′ 52“
Bühnenbild: Jiří Kylián
Licht: Kees Tjebbes
Tänzerinnen und Tänzer: Mariya Tyurina, Denis Untila, Yanelis Rodriguez
Wataru Shimizu, Julia Schalitz, Yehor Hordiyenko
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Petite Mort
Bühnenbild: Jiří Kylián
Licht: Jiří Kylián (Konzept), Joop Caboort
Tänzerinnen und Tänzer: Ana Carolina Reis, Liam Blair, Paula Archangelo-Çakir, Wataru Shimizu
Yanelis Rodrigues, Yehor Hordiyenko, Yulia Tsoi, Armen Hakobyan, Mariya Tyurina
Artem Sorochan, Maria Lucia Segalin, Aidos Zakan
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Birth-Day (Filmfragment)
Bühnenbild und Licht: Jiří Kylián
Film / Video: P&P Lataster, Vidishot
Tänzerinnen und Tänzer: Gioconda Barbuto, David Krügel
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Sechs Tänze
Bühne und Kostüme: Jiří Kylián
Licht: Jiří Kylián (Konzept), Joop Caboort
Tänzerinnen und Tänzer: Ana Carolina Reis, Igor Volkovskyy, Yanelis Rodriguez
Yehor Hordiyenko, Yusleimy Herrera León, Moises Léon Noriega, Paula Archangelo-Çakir, Nwarin Gad