Vorstellung 4. 5. 2014
Das Stadttheater Gießen, das seit Jahren in jeder Spielzeit ein bis zwei Opernraritäten in seinem Programm hat, zeigt zurzeit die Oper „Mirandolina“ des tschechischen Komponisten Bohuslav Martinů, deren Uraufführung 1959 in Prag stattfand. In Gießen wird die italienische Fassung als deutsche Erstaufführung mit deutschen Übertiteln gebracht.
Die Handlung nach Carlo Goldoni in Kurzfassung:
Alle sind verliebt in Mirandolina, die kokette und attraktive Wirtin eines Florentiner Gasthauses. Der verarmte Marchese und der reiche junge Conte möchten sie sogar heiraten – sehr zum Leidwesen des sich vor Eifersucht verzehrenden Dieners Fabrizio. Nur der Cavaliere Ripafratta kann ihr widerstehen, denn lieber wolle er sich einen Jagdhund als eine Ehefrau zulegen. Mirandolina ist empört und setzt sich in den Kopf, keine weibliche List auszulassen, um das Herz des Cavaliere zu gewinnen, heiratet aber schließlich doch den Diener Fabrizio.
Bohuslav Martinů (1890 – 1959) schuf mit „Mirandolina“ eine heitere opera buffa, die stark von mährischer Volksmusik, Jazz und französischem Impressionismus beeinflusst ist und als eine augenzwinkernde Reminiszenz an die Meisterwerke Rossinis gilt. Zum Begriff Koketterie ist im Programmheft auch ein lesenswerter Text von Georg Simmel abgedruckt. Daraus ein Zitat: „Will man die Ausschlagspole der Koketterie begrifflich festlegen, so zeigen sie eine dreifach mögliche Synthese – die schmeichlerische Koketterie: du wärst zwar imstande zu erobern, aber ich will mich nicht erobern lassen; die verächtliche Koketterie: ich würde mich zwar erobern lassen, aber du bist nicht dazu imstande; die provokante Koketterie: vielleicht kannst du mich erobern, vielleicht nicht – versuche es!“
Der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak, der vor der Premiere von den Medien Theater-Desperado genannt wurde, machte seinem Ruf alle Ehre. Er inszenierte das Werk als Farce und bissig-böse Satire, in der er die Frauen zwischen Hure und Madonna ansiedelte und die Männer zwischen gewaltbereiten Machos und leidensfähigen Softies. Er war gemeinsam mit Lukas Noll, der die Kostüme entwarf, wobei er den Frauen freizügige Kleidung verpasste, auch für die Bühnengestaltung zuständig. Warum er den ersten Akt ohne Tisch und Stühle ablaufen und die Akteure stets auf dem Boden spielen ließ, blieb unergründlich. Dafür sparte er nicht mit Symbolen – so stand eine der Dienerinnen halbnackt als scheinbar Gekreuzigte an der Wand und wurde später von einem Jüngling in dieser Pose abgelöst. Auch mit Pfeil und Bogen wurde von einem der Dienstmädchen auf Männer geschossen.
Ein besonderes Faible scheint der Regisseur für Gewaltszenen zu haben. Dass er zwei Darsteller auf Flaschen schießen ließ, kann man noch als „besoffene Tat“ abtun, aber die Szene im dritten Akt, als ein Mädchen in Gestalt eines Engels einen Revolver findet, übertraf jede Farce. Sie tritt schussbereit vor einen Spiegel – und als ein Jüngling die Bühne betritt, schießt sie ihn in den Kopf. Ein Mann folgt ihm und wird gleichfalls getötet. Der „Engel“ tritt ab, kehrt nach kurzer Zeit wieder und versetzt beiden Männern nochmals mehrere Kopfschüsse. Am Schluss kommt ein alter Mann, der während des Stücks wie ein Gärtner unentwegt die Bühne betrat und Blumen auf dem Fußboden abstellte, und zieht das weißgekleidete Mädchen mit sich…
In der Titelrolle faszinierte die italienische Sopranistin Francesca Lombardi Mazzulli sowohl darstellerisch wie stimmlich. Sie gab eine kokette Mirandolina, die unentwegt an ihren Gästen ihre Verführungskünste zu erproben schien, aber auch ihre Dienstmädchen innig küsste. Dass ihr der Cavaliere Ripafratta, der sich als Frauenverächter gab und vom deutschen Bariton Tomi Wendt köstlich gespielt wurde, lange Zeit widerstand, war für sie von besonderem Reiz.
Die beiden Verehrer Mirandolinas, der Conte Albafiorita und der Marchese Forlimpopoli, wurden vom kanadischen Tenor Eric Laporte und vom rumänischen Bassbariton Calin Valentin Cozma als unsympathische Machos dargestellt und sehr ausdrucksstark gesungen. Mirandolinas Diener Fabrizio stellte der deutsche Tenor Ralf Simon mit vielen Gesichtern dar. Einerseits spielte er den seiner Herrin treuen Diener, andererseits einen Frömmling, der sich gleichfalls in Christus-Pose präsentierte. Dass er schließlich Mirandolina eroberte, schien ein Wunder.
Sehr humorvoll agierten die spanische Sopranistin Naroa Intxausti und die deutsche Altistin Stine Marie Fischer als die beiden Komödiantinnen Hortensia und Dejanira, die von Fabrizio als Adelige ausgegeben wurden, aber dann mit den Männern ihre erotischen Späße trieben. In der kleinen Rolle als Diener des Cavaliere war noch der georgische Tenor Vepkhia Tsiklauri im Einsatz.
Dazu gab es noch sechs stumme Rollen, die allesamt komisch angelegt waren. Mit erstaunlich komödiantischer Begabung spielten Myriel Bischoff und Theresa Gehring die beiden Dienstmädchen, Jessica Coletta den Engel, Simon Brombach, Florian Moll und Glenn Buchholtz drei Jünglinge sowie Klaus Peter Unfried den alten Mann mit Schnurrbart, der fortwährend und meist bei unpassenden Gelegenheiten die Bühne betrat und seine Blumen in Vasen oder Töpfen platzierte.
Die oft wunderbar lyrische, oft mitreißend rhythmische Partitur des Komponisten wurde vom Philharmonischen Orchester Gießen unter der Leitung von Michael Hofstetter, der seinem Ruf als Experte für authentische Aufführungen wieder einmal gerecht wurde, exzellent wiedergegeben.
Das bis zum Schluss gebliebene Publikum – nicht wenige der Besucherinnen und Besucher ergriffen zur Pause die Flucht – belohnte die Darbietungen aller Mitwirkenden mit starkem Beifall, Bravorufe gab es für die Darstellerin der Mirandolina.
Udo Pacolt 7.5.14 (Merker-online)
Weitere Bilder siehe unten
P.S.
Die komplette Oper zum Nach-bzw. Reinhören