KONTRASTREICHE SAISONERÖFFNUNG
Seit Jahren pflegen die Grazer Philharmoniker und die Oper Graz die gute Tradition, die Saison mit einem repräsentativen Orchesterkonzert zu eröffnen. Ab der Saison 2020/21 hat der in Dresden ausgebildete Roland Kluttig den Posten als Chefdirigent der Grazer Philharmoniker inne. Beim Abschiedskonzert seiner Vorgängerin Oksana Lyniv mit Kammermusikalischem von Richard Strauss im Juni 2020 musste corona-bedingt die Besucherzahl im prächtigen, fast 1400 Plätze fassenden Grazer Opernhaus auf 100 (!) beschränkt werden. Gut ein Jahr später durften diesmal unter Einhaltung der notwendigen Sicherheitsbestimmungen wieder alle Plätze vergeben werden. Und das Grazer Publikum – offenbar ausgehungert nach Live-Musikerleben – kam erfreulicherweise wieder in großer Zahl. Das Opernhaus war wohl nicht ausverkauft, aber sehr gut gefüllt.
Es gab ein wahrlich kontrastreiches und effektvolles Programm:
Georg Friedrich Haas: concerto grosso Nr.1 für 4 Alphörner und Orchester (2014)
Richard Strauss: „Eine Alpensinfonie“, op. 64 (1915)
Roland Kluttig hatte in diesem August sehr kurzfristig und mit einhelligem Erfolg bei Publikum und Presse ein Konzert mit dem ORF-Radiosymphonieorchester Wien bei den Salzburger Festspielen übernommen. Die Frankfurter Allgemeine schrieb darüber u.a.: Roland Kluttig, einer der wenigen Dirigenten weltweit, der neueste Musik genauso versiert aufführen kann wie Beethoven, Wagner und Sibelius.
An diesem Grazer Eröffnungsabend konnte man eindrucksvoll erleben, dass dieses Presselob sehr berechtigt ist. Roland Kluttig überzeugte mit den sehr gut disponierten Grazer Philharmonikern sowohl bei den subtil-filigranen Klangschwebungen von Georg Friedrich Haas als auch bei den üppig-spätromantischen Emanationen von Richard Strauss.
Den Abend eröffnete das 2014 in München uraufgeführte Concerto grosso Nr. 1 von Georg Friedrich Haas als Grazer Erstaufführung. Es ist ein Werk für großes Orchester in der Besetzung 3 3 3 3 – 6 3 3 1 – Pk, Schl(3) – Streicher (12 10 8 6 6) und für 4 Alphörner. Schon rein optisch ist das im wahrsten Sinne des Wortes bühnenfüllend und -wirksam!
Georg Friedrich Haas nannte in einem Interview sein Werk eine Art Schule des Hörens. Da war es sehr hilfreich, dass vor Konzertbeginn Roland Kluttig und die Alphornsolisten nicht nur die exotischen Soloinstrumente vorstellten, die auf ganz unterschiedlichen, auch vierteltönig verschobenen Grundtöne gestimmt sind, sondern dem Pubikum auch Tonbeispiele boten, die uns in die subtile Klangwelt ein wenig einführten. Zusätzlich gibt es auf der Homepage der Universaledition, wo das Werk verlegt ist, den link zu einem 7-Minuten Video mit Hörproben und Erklärungen des Komponisten – allen Interessierten sehr zu empfehlen!
Über das HORNROH modern alphornquartet ist auf seiner Homepage zu lesen:
…. wurde im Sommer 2000 anlässlich eines Engagements der Opernfestspiele München von vier professionellen Bläsern aus Basel gegründet mit dem Anspruch, traditionelle Alphornmusik mit modernem, zeitgenössischem Denken und Spielen zu verknüpfen.Dieses Quartett hatte nicht nur die Uraufführung in München gespielt, sondern auch die bisherigen Aufführungen z.B in Zürich, Berlin, Wien und Los Angeles. Es war höchst eindrucksvoll, diese Spezialisten zu erleben.
Zwei Anmerkungen des zwar recht hörerfahrenen, aber nicht mit einem absoluten Gehör beschenkten Referenten: den Ausführenden ist es offenbar ausgezeichnet gelungen, durchgehend die vom Komponisten geforderte Illusion eines Klangkontinuums zu wahren. Roland Kluttig schaffte es mit ruhiger und klarer Zeichengebung, die Klangflächen sowohl in dynamischer als auch in rhythmischer Hinsicht bemerkenswert bruchlos aufzubauen. Nicht nur die erprobten Solisten, sondern auch das rund 70-köpfige Orchester waren mit großer Konzentration und bewundernswerter Homogenität am Werk, sodass selbst die vom Komponisten geforderten extrem reibungsvollen Intervalle ästhetisch reizvoll, ja „schön“ waren. Eine Äußerung einer Dame im Publikum überraschte mich: „Sehr spannend, aber pessimistisch“ Diese emotionelle Einschätzung passt zu einem Satz von Reinhard Kager im Programmheft: Ein Hauch von Vergeblichkeit liegt in dieser Musik, die leise an die Unmöglichkeit gemahnt, den perfekten Zusammenklang, geschweige denn das harmonische Zusammenleben der Menschen je erreichen zu können.
Nach der Pause machten wir einen deutlichen Schritt in der Musikgeschichte zurück. Die Alpensinfonie von Richard Strauss wurde rund 100 Jahre vor dem Haas-Werk uraufgeführt, wobei die Entstehungsgeschichte noch weiter zurück reicht. War das Orchester schon bei Haas groß besetzt, so erreichen die Wünsche von Richard Strauss eine geradezu monströse Größe. Insgesamt werden laut Strauss’ Angaben mindestens 107 Musiker benötigt. Aus den Anweisungen des Komponisten, manche Instrumente über das Minimum hinaus womöglich zu verstärken und für das Fernorchester hinter der Bühne eigene Musiker vorzusehen, ergäbe sich nach den Vorstellungen Strauss’ eine Optimalbesetzung von 129 Musikern oder noch mehr. Nun: Graz hat für die Alpensinfonie 103 Orchestermitglieder aufgeboten – das reichte meiner Überzeugung nach vollkommen, um im Grazer Opernhaus ein gültiges Klangbild zu vermitteln.
Roland Kluttig hat die Klangmassen klug disponiert. Die Grazer Philharmoniker waren genau so konzentriert wie vor der Pause bei der Sache: die Streicher vermittelten den gebührenden Richard-Strauss-Sound und das warm timbrierte Blech glänzte. Roland Kluttigs Dirigieren ist für mich höchste deutsche Kapellmeisterkultur im besten Sinne des Wortes – unpathetisch und allürefrei. Wir können uns freuen, was wir in dieser Spielzeit von ihm noch erwarten können: nämlich Moderne mit der österreichischen Erstaufführung der Oper von Georg Friedrich Haas Morgen und Abend (Premiere am 12. Februar 2022) und Romantik mit Richard Wagners Der Fliegende Holländer (Premiere am 23.April 2022)
Über die Alpensinfonie wurde viel Lobendes und viel Kritisches geschrieben. Ich tendiere da zu der Einschätzung des jungen Ernst Krenek, der als Vierzehnjähriger Also sprach Zarathustra in Wien erlebt hatte und vom bombastischen, pseudophilosophischen Diskurs ziemlich enttäuscht war (Ernst Krenek: Im Atem der Zeit – Erinnerungen an die Moderne, Hoffman und Campe, Seite 102).
Beim Grazer Saisoneröffnungskonzert gab es jedenfalls sowohl für Georg Friedrich Haas als auch für Richard Strauss kräftigen und anhaltenden Applaus, der wohl vor allem auch den Grazer Philharmonikern und ihrem Chefdirigent Roland Kluttig galt.
Hermann Becke, 26. 9. 2021
Fotos: Oper Graz © Oliver Wolf
Zwei außermusikalische Informationen seien gerade in Graz gestattet, nicht nur weil Georg Friedrich Haas in Graz geboren ist und seinen Komponistenweg hier begonnen hat, sondern weil sie auch zeitlich in die Entsstehungszeit des heute gehörten Werks fallen:
Es sind dies seine Äußerungen zur Nazi-Zeit:
Rede von Georg Friedrich Haas zum Festakt „50. steirischer herbst“ am14. September 2017
Und es ist dies der Film The Artist&The Pervert samt Trailer
Wer sich also nicht nur mit dem musikalischen Werk von Georg Friedrich Haas, sondern auch mit seiner Persönlichkeit auseinandersetzen will, dem steht es frei, diesen links nachzugehen.