Premiere: 17.4.2016
Plädoyer für eine weitgehend unbekannte Oper
Ungeachtet einer relativ kontinuierlichen Aufführungsstatistik in jüngerer Zeit (es gab auch Produktionen an mittleren Häusern wie Magdeburg 2002 und Bielefeld 2015) kann „Hamlet“ von Ambroise Thomas im gegenwärtigen Repertoire nicht als wirklich verankert gelten. Der einst so populären „Mignon“ geht es freilich auch nicht sonderlich gut, als zu harmlos wird heutzutage empfunden, was die Librettisten Michel Carré und Jules Barbier aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ heraus destillierten. „Hamlet“ ist seinerseits ein recht fragwürdiger Shakespeare-Verschnitt, welcher dem Gedankenreichtum und der tiefenpsychologischen Dramaturgie des Originals kaum gewachsen ist. Dass einige Figuren durch die Textdichter (es sind die gleichen wie bei „Mignon“) gestrichen wurden, mag man hinnehmen und die figurative Konzentration auf Hamlet, Ophelia, König Claudius und Königin Gertrude billigen. Aber das Werk von Thomas, dramatisch zwar einfallsreich und szenisch plausibel ersonnen, entbindet dem Handlungsgerüst Shakespeares oft nur Begebenheiten von opernklischeehaftem Anstrich. Freilich wäre en detail auch beim Sprechdrama einzugreifen. Das Reuegebet von Claudius, an den von ihm ermordeten Bruder gerichtet, wirkt beispielsweise theatralisch etwas aufgesetzt. Eine Schauspielinszenierung könnte das fraglos korrigieren; bei Thomas steht dem die leicht patethische Musik entgegen. Ophelias Wahnsinns-Szene wiederum endet mit einem Chor-Tableau, welches sich an den Geisterwesen des Balletts „Giselle“ von Jean Coralli orientiert und heute allzu befremdlich wirkt.
Eine besondere Auswirkung hat die Positionierung Ophelias. Bei Shakespeare ist sie sicher keine beiläufige Figur, in der Oper steht sie jedoch im Mittelpunkt. Einem typisch fragilen Frauentypus der Oper des 19. Jahrhunderts entsprechend vermag sie nicht zu verkraften, dass sie von Hamlet nicht ihrem eigenen Begehren entsprechend geliebt wird. Die Regisseurin Helen Malkowsky (vor Ort bereits mit anderen Raritäten wie Verdis „Stiffelio“ und Tschaikowskys „Mazeppa“ aktiv) deutet das bei der ersten Begegnung unmissverständlich an: die beiden kommen sich nicht wirklich nahe, schreiben sich ihre Gefühlsbekenntnisse (Hamlet spricht anfangs durchaus von Liebe) gegenseitig auf Arme und Beine, romantische Tattoos gewissermaßen.
Rührt die erotische Hemmung bei Hamlet einzig von seiner fast schon pathologisch zu nennenden Bindung an den ermordeten Vater her? Im Krefelder Programmheft sind Bemerkungen von Sigmund Freud über die „männliche Sexualabneigung“ Hamlets zu lesen, die „von der Seele des Dichters immer mehr Besitz nehmen sollte“. Vergleichbare Identitäten? Die Inszenierung lässt dies immerhin vorstellbar erscheinen. Dazu passt, dass der Titelrollensänger Rafael Bruck wie ein romantischer Jüngling wirkt, schlank von Statur, die langen Haare immer wieder verzweiflungsvoll durch die Luft schleudernd. Die markante Stimme ist hierzu ein Kontrast, jedoch kein Widerspruch.
Der Regie gelingt es zwar nicht, sämtliche Operntrivialitäten zu umschiffen, bringt dem Zuschauer das Geschehen mit plausibler Personenführung aber doch sehr nahe. Ein zentraler Interpretationsansatz ist es, den Geist von Hamlets Vater mit einem hinzu erfundenen Narren zu parallelisieren, welcher die Handlung immer wieder dämonisch antreibt. Am Schluss setzt sich der zum neuen König ernannte Hamlet ebenfalls eine Narrenkappe auf: die ganze Tragödie könnte sich also wiederholen.
Hermann Feuchters relativ nüchterne, gleichwohl reich wirkende Ausstattung orientiert sich offenkundig an der Shakespeare-Bühne. Architektonische Schrägen sollen vermutlich andeuten, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Die Kostüme von Susanne Hubrich changieren stimmig zwischen Moderne und Historie.
Mihkel Kütson holt aus den Niederrheinischen Sinfonikern die Opulenz und Farbfantasie von Thomas’ Musik wirkungsvoll heraus, der Chor (Michael Preiser) erhält zu Recht Ovationen, wie er sie zuvor kaum je erleben konnte. Dass „Hamlet“ auf den Spielplan gesetzt wurde, hat nicht zuletzt mit dem Bemühen des Theaters Krefeld/Mönchengladbach zu tun, Sänger des Ensembles ihrem künstlerischen Vermögen entsprechend wirkungsvoll zu präsentieren. Rafael Bruck in der Titelpartie wurde bereits positiv erwähnt. Eine besondere Sympathie des Premierenpublikums galt nicht von ungefähr Sophie Wittes Ophelia. Ihr sind offenbar jedwede „Wahnsinns“-Koloraturen und stratosphärische Tongirlanden abzuverlangen; und sie bezaubert mit fein gesponnenen Piani. Andrew Nolen ist sich nicht zu schade, mit den wenigen Verlautbarungen von Hamlets Vater vorlieb zu nehmen. Mit seiner Präsenz als Narr verleiht der darstellerisch sehr virile Sänger der Aufführung eine besondere Spannung. Janet Bartolova bietet ein sehr eindringliches, aristokratisches Porträt der Königin, Matthias Wippich engagiert sich überzeugend für den König Claudius. Carlos Moreno Pelizari lässt als Laertes tenoral aufhorchen. Ihm verordnet die Regisseurin seltsam stampfende Gänge und erklärt das im Programmheft bei ihren „Gedankensplittern zur Personage“ wie folgt: „Laertes – das Zirkuspferd in der Manege, das Hamlet als Prototyp des idealen Königsstall-Pferdes vorgeführt wird.“ Auch sonst viel verbaler Dampf. Hayk Dèinyn (Polonius), Kairschan Scholdybajew (Marcellus) und Gereon Grundmann (Horatio) haben die gänzlich unauffälligen Nebenrollen inne.
Der Premierenbeifall war bereits vor der Pause ungewöhnlich stark, nach dem Fallen des Schlussvorhanges steigerte er sich fast zur Extase. Ob das die künftige Rezeption des Werkes günstig beeinflusst? Im Vorjahr hat man in Bregenz übrigens eine andere, gänzlich unbekannte Hamlet-Oper vorgestellt, nämlich „Amleto“ von Franco Faccio. Auch hier waren die Reaktionen größtenteils enthusiastisch.
Bilder (c) Matthias Stutte
Christoph Zimmermann26.11.2017