Vorstellung am 21. März 2019
Inszenatorische Frische durch Abstraktion
Die dieses Jahr besonders interessante temporada der Ópera de Tenerife ging im März mit drei Aufführungen einer „Turandot“-Produktion des italienischen Regisseurs Giuseppe Frigeni weiter, die im Jahre 2003 im Teatro Comunale di Modena ihre Premiere erlebte. Sie wirkte jedoch keineswegs so alt wie sie ist – im Gegenteil, so frisch wie eine Neuinszenierung! Denn, ganz anders als das, was man bei Puccinis Verismo-Dramen normalerweise sieht, finden die Handlung und ebenso der Raum und die Farben auf einem äußerst hohen Abstraktionsniveau statt. Der Regisseur, der auch für die Beleuchtung verantwortlich zeichnet, will eine „Turandot“ entre tradición y reinterpretación zeigen, also eine „Turandot“ zwischen Tradition und Neuinterpretation. Und das ist ihm und seiner ebenso phantasie- wie geschmackvollen österreichischen Kostümbildnerin Amélie Haas durchaus gelungen. Hier erleben wir kein wörtlich übertragenes Aktionstheater und man merkt, dass Frigeni auch in die Schule von Robert Wilson ging.
Es wird kein Henkerbeil an einem Schleifstein geschärft, ja, man sieht schon gar keinen Henker für den armen Príncipe de Persia. Der unsichtbare Gong wird nur virtuell geschlagen, und auch die Minister agieren eher symbolisch als mit konkreten, auf Calafs Absicht, die Prinzessin der Kälte ein weiteres Mal herauszufordern, bezogenen Aktionen. Die Wachen mit ihren langen und mit eigenartiger doppelter Schneide versehenen Lanzen stochern nur symbolisch in der Luft herum, anstatt dem drängenden Volk, das sich meist an der Seite sammelt, Einhalt zu gebieten. Auch die Beleuchtung spielt bei dieser Produktion im Sinne einer betonten Abstraktion eine besondere Rolle. So öffnet sich immer wieder der in strengen rechteckigen Formen gehaltene Horizont in farblichen Pastelltönen wie u.a. Blau und Weiß, die aber durchaus im weitesten Zusammenhang mit dem Geschehen stehen. Im Wesentlichen wählt Frigeni aber dunkle Töne für das Bühnenbild, was ja auch mit der dunklen Geschichte, die hier vorgeführt wird, vereinbar ist.
So zieht sich zu Beginn der Bühnenboden nach hinten zurück und lässt eine Gruppe von Büsten sichtbar werden, die symbolisch wohl nur für die letzten der Opfer Turandots stehen. Nur neutrale Büsten, die etwas an die äußere Uniformität der 10.000 Krieger in der alten chinesischen Kaiserstadt Xian erinnern (obwohl diese alle verschiedene Gesichter haben!) – aber eben keine aufgespießten blutigen Köpfe. Turandot senkt nicht die Hand über den Prinzen von Persien, sondern wird nur einmal kurz, erstarrt wie einst die Salzsäule der Lot bei ihrem verbotenen Rückblick auf den Untergang von Sodom und Gomorrha, gezeigt. Die Kostüme, last, but definitely not least, vermitteln mit ihrer Eleganz, Farbwahl – und man könnte fast sagen – laufstegartigen Modernität zeitlose Ästhetik und lassen nicht zuletzt deshalb die Produktion so neu und frisch erscheinen.
Was will Frigeni damit bezwecken? Er stellt in einem Aufsatz im Programmheft heraus, dass Oper für ihn ein individuelles Erlaubnis sei, auf jeden Besucher übe diese Kunstform und ihre Ausführung eine ganze bestimmte individuelle Wirkung aus. Daraus ergibt sich für ihn zwingend, dass die Regie nicht von erzählerischen Kriterien, die bisweilen gar einen propädeutischen Charakter annehmen könnten, geprägt wird. Vielmehr soll dem Individuum ein weiter Raum gelassen werden, also der berühmte Assoziationsspielraum, sich über die Musik und die abstrakt gehaltenen Bilder ein eigenes Bild von dem zu machen, was es gerade erlebt. Und die Musik spielt für Frigeni dabei eine entscheidende Rolle, und sie ist ja gerade bei „Turandot“ auch ein wirklich zentraler Teil des Werkes. Bei allem Respekt, das lässt sich heutzutage nicht mehr von sehr vielen Redakteuren sagen, insbesondere von solchen, die sich Interpretationen im Sinne des sog. Regietheaters verschrieben haben. Obwohl auch hier, wenn kompetent und „wasserdicht“ im Sinne der jeweiligen Aussage des Stückes inszeniert, interessante Ergebnisse erzielt werden.
Interessant ist aber auch Frigenis Interpretation der Protagonisten und damit auch seine ganz ungewohnte Personenregie. Für ihn ist Turandot eine komplexe und fragile Figur, viel mehr als die eiskalte und grausame Männerhasserin. Sie ist eine verletzte und verzweifelte Persönlichkeit, charakterisiert durch eine psychische Schwäche und sehnt sich deshalb nach authentischen und echten Gefühlen. Diese bekommt sie aber nicht von Calaf, denn diesen zeichnet Frigeni als einen machtbesessenen, auf seine Männlichkeit stolzen und von Eroberungsgedanken getriebenen Mann, den allein die Eroberung Turandots reizt und die damit nun seinerseits gewonnene Macht über sie. Sicher ist das für den normalen „Turandot“-Kenner und -Bewunderer harte Kost, aber, ist das so weit von der Realität entfernt?!
Es lohnt sich darüber nachzudenken. An der Deutschen Oper Berlin hat Kaspar Holten den Lohengrin so gezeichnet. Diese Inszenierung läuft noch. Calaf erobert Turandot nicht aus Liebe, sondern aus Ehrgeiz um die Macht, politische wie persönliche. In dieser Produktion kann man kaum erwarten, dass der Kaiser Altoum noch 10.000 Jahre leben wird… Sogar in Calafs Beschwichtigung Lius, sie solle nicht weinen, erkennt Frigeni unterschwelligen Paternalismus und männliche Arroganz! Erwartungsgemäß erwidert Calaf am Ende nicht Turandots Kuss und wendet sich ab, nachdem die ihn als Verkörperung der Liebe ausgemacht zu haben glaubt. Damit sind alle ihre Illusionen zerstört.
Liù zeigt Frigeni hier als das Komplement zu Turandot, sie ist sozusagen ihr Alter Ego. Er sieht bei ihr eine andere Herangehensweise an die Liebe, eine aufopfernde bis hin zur Neurose. Beide Frauen leben in einem Konflikt um Calaf und kommen zu gleichermaßen verzweifelten Lösungen. Liù mit dem Selbstmord, und Turandot durch defensive Entfremdung.
Die drei Minister werden im Einklang mit diesem Regiekonzept als Tragikomiker, servile Clowns der Macht, aber – am Ende – eben impotent inszeniert. Es war schon interessant, mit dieser „Turandot“ einmal eine ganz andere Herangehensweise an dieses Werk zu erleben.
Die catanische Sopranistin Tiziana Caruso sang die Titelrolle und wurde ihrer ungewohnten Interpretation voll gerecht. Wenig Bewegung, eigentlich immer wie ein bisschen gehemmt geht sie durch den Abend und überzeugt mit einem dramatischen Sopran, der die gefürchteten Höhen im 2. Akt mühelos meistert. Die Turandot ist in den letzten Jahren wohl ihre Hauptrolle, vor allem in Italien. Der Uruguayer Carlo Ventre war ihr Calaf und enttäuschte stimmlich doch etwas. Sein Tenor wirkt etwas verbraucht. Die Stimme klingt oft kehlig und hat damit auch zu wenig Resonanz. Zwar singt Ventre alle erforderlichen Höhen, macht auch ein gutes „Nessun dorma“, aber es fehlt letztlich auch an einem gewissen Schmelz. Dass er die Rolle zu reserviert angeht, liegt wohl an der speziellen Regie für den machtbesessenen Calaf, der sich unauffällig ans Ziel schleicht.
Die Rumänin Alexandra Grigoras wartet als Liù mit einem leuchtenden, sehr sensibel geführten Soran auf und gestaltet auch die verzweifelte Rolle der Helferin des Vaters von Calaf äußerst emotional und berührend. Sie bekam – wie so oft die Liù – damit auch den meisten Applaus. Der Italiener Carlo Malinverno sang mit einem voluminösen Bass den Timur. Blagoj Nacoski aus Mazedonien war ein Respekt gebietender Kaiser Altoum. Unter den drei Mistern ragte Alfonso Mujica, wie Ventre aus Uruguay, mit seinem klangvollen und wortdeutlichen Bariton als Ping stimmlich hervor. Neben ihm sangen der Chinese Biao Li den Pong und der Costaricaner David Astorga den Pang. Der Russe Aleksandr Utkin war mit einer zu kleinen Stimme ein nicht durchdringender Mandarin. Carmen Cruz, die wohl einzige Mitwirkende aus Teneriffa in dieser Produktion außer Orchester und Chor, hatte diesen für die große Choroper „Turandot“ bestens vorbereitet. Die einzelnen Gruppen waren klar zu unterscheiden, und alle sangen mit beachtlicher Diktion und stimmlicher Kraft.
Der Mailänder Giampaolo Bisanti dirigierte die Sinfónica de Tenerife mit viel Verve und enormer Intensität im Kontakt mit Sängern und Chor. Er schuf eine enge Verbindung zum eher ruhigen Geschehen auf der Bühne und arbeitete die Höhepunkte, insbesondere im vokalen „Zweikampf“ zwischen Turandot und Calaf im 2. Akt, gut heraus. Es war musikalisch ein eindrucksvoller Abend, der auch enthusiastischen Applaus des ausverkauften Auditorio Adán Martín mit seinen 1.658 Plätzen erhielt.
Fotos: Miguel Barreto
Klaus Billand/04.04.2019