Besuchte Aufführung: 22.10.2017 (Premiere: 15.10.2017)
Die Nornen als Regisseure
Das war einer jener unvergesslichen Opernabende, die noch lange in Erinnerung bleiben. Mit der „Götterdämmerung“ ging der neue Karlsruher „Ring des Nibelungen“, an dem am Badischen Staatstheater seit Ende der vorletzten Spielzeit geschmiedet wurde, mit Bravour in die letzte Runde. Wie weiland in Stuttgart und Essen sind auch in der Fächerstadt die vier Teile der Tetralogie auf unterschiedliche Regisseure verteilt. Nach David Hermann, Yuval Sharon und Thorleifur Örn Arnasson ist die Reihe nun an Tobias Kratzer, dem in Zusammenarbeit mit dem Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier nichts weniger als ein Geniestreich gelungen ist. Selten hat man Wagners Werk so spannend, hervorragend durchdacht, tempo- und abwechslungsreich erlebt. Die stringente Personenregie war vom Feinsten, Leerläufe und Langeweile kamen an keiner Stelle auf. Wie gebannt folgte man dem Geschehen auf der Bühne, das sich vom Anfang bis zum Ende wie aus einem Guss präsentierte und beredtes Zeugnis von den außergewöhnlichen Fähigkeiten Kratzers ablegte, der nächstes Jahr mit „Tannhäuser“ auch die Bayreuther Weihen erhält.
Kratzer ist, wie gesagt, nur ein Regisseur unter vieren. Und genau das bringt er auch auf die Bühne. Zu Beginn sieht man die drei Regisseure der vergangenen Abende auf ihren Regiestühlen mit dem Rücken zum Publikum vor einem Zwischenvorhang mit der Aufschrift „The end“ schlummern. Nacheinander erwachen sie und beginnen mit Frauenstimmen zu singen. Es sind die Nornen, die sich hier in Kostüm und Maske der drei Regisseure präsentieren und dabei individuell charakterisiert werden. David Hermann, der im „Rheingold“ die anderen Teile des Zyklus szenisch vorwegnahm, sind von Kratzer die vier „Ring“-Partituren zugeordnet, Yuval Sharon erscheint mit Tablet und Videokamera und Thorleifur Örn Arnasson benötigt zum Inszenieren nur ein Reclam-Heft. Die Nornen im Gewand der drei Regisseure werden hier zu den eigentlichen Hauptrollen. Sie erfahren bei Kratzer eine ungemeine Aufwertung. Er weist ihnen nicht nur eine erzählende, passive Funktion zu, wie es in anderen Inszenierungen des Stückes immer der Fall ist, sondern eine durchaus aktive. Immer wieder geistern sie über die Bühne und versuchen den von ihnen erkannten Untergang abzuwenden. Dazu schlüpfen sie in die verschiedensten Rollen. Im dritten Aufzug erscheinen sie im Gewand der Rheintöchter mit Nixenschwänzen, die Siegfried anhand der Partitur klar machen, dass Wagner seinen Tod fordert. Und im ersten Aufzug verkleidet sich die erste Norn alias David Hermann als Waltraute, um in dieser Maske Brünnhilde dazu zu bewegen, den Ring zurückzugeben. Im zweiten Aufzug übernehmen die Nornen darüber hinaus auch die wenigen Sätze der Chorfrauen. Ihren Bemühungen ist indes kein Erfolg beschieden. Sie können das Schicksal nicht aufhalten. Darin liegt ihre Tragik. Dieser Handlungsstrang wird von Kratzer konsequent durchgezogen und erlahmt nie. Deutlich wird, dass der Regisseur mit Tschechow´schen Elementen trefflich umgehen kann.
Daniel Frank (Siegfried)
Aber auch für Bertolt Brecht beweist er ein untrügliches Gespür. Dem Walkürenfelsen, der hier ein weißes Boudoir mit Himmelbett darstellt und von dem „The end“- Vorhang als Brecht’sche Gardine abgeschlossen wird, kommt die Funktion eines Theaters auf dem Theater zu. Die Gibichungenhalle stellt einen Spiegelsaal dar, der seine Bewohner ständig mit der eigenen Unvollkommenheit konfrontiert und auch den Zuschauern den sprichwörtlichen Spiegel vorhält. Hagen trägt einen dunklen Anzug mit Hemd und Krawatte. Ihm wurde das Trauma seines entmannten Vaters Alberich vererbt. Dieser verlangt von seinem Sohn, sich ebenfalls zu kasteien, Hagen entgeht diesem Schicksal aber. Die bereits heruntergelassene Hose darf er sich wieder hochziehen. Insgesamt wirkt er viel ernster als seine beiden Halbgeschwister. Gunther ist der konventionelle Schwächling, der hier Männer liebt. Seine Homosexualität kommt in dem Augenblick zum Ausdruck, als er drauf und dran ist, Siegfried anzubaggern, aber im letzten Augenblick einen Rückzieher macht. Dass er nicht gerade der Stärkste ist, wird auch am Schluss des ersten Aufzuges deutlich, mit dem Kratzer ein echter Coup de théatre gelungen ist. Bei ihm erscheinen Siegfried und Gunther gemeinsam im Boudoir Brünnhildes. Siegfried trägt dabei eine Fechtmaske, die an die Stelle des Tarnhelms tritt. Sehr interessant war, dass Gunther in dieser Szene vom Regisseur ein Großteil des Gesangs von Siegfried zugeordnet wurde. Die tiefen Töne, die Wagner hier von seinem Helden verlangt, sind für einen Bariton aber durchaus singbar. Dieser phantastische Regieeinfall machte ganz großen Eindruck. Bei der Überwältigung Brünnhildes zieht Siegfried ihr den Ring vom Finger und übergibt ihn Gunther, erhält ihn aber wenig später von ihm zurück. In der Folge erweist sich der Gibichungenkönig als unfähig, mit der wohl stark widerstrebenden Brünnhilde den Geschlechtsakt zu vollziehen. Resigniert tritt er wieder vor den Zwischenvorhang. Siegfried hilft ihm, die ehemalige Walküre auch in dieser Hinsicht zu bezwingen. Dabei kommt der Wotan-Enkel auf den Geschmack. Nachdem er wieder von Gunther abgelöst wurde, beginnt er heftig zu onanieren. Nicht nur hier wurde ersichtlich, dass Gunther ständig an seinem Selbstbild zweifelt. Er lebt in ständiger Angst davor, dass sein Schwulsein offenkundig wird. Im zweiten Aufzug erscheint er in einem Jeep auf der Bühne. Seine Schwester Gutrune ist eine durchaus schön anzusehende Frau, die indes nicht ernst genommen wird. Bevor sie in die Intrige gegen Siegfried eingeschaltet wird, beschränkt sich ihre Funktion am Gibichungenhof darauf, das Frühstück zu machen.
Ks. Armin Kolarczyk (Gunther), Daniel Frank (Siegfried), Heidi Melton (Brünnhilde)
Nicht nur den verschiedenen Personen, die unter seiner Ägide durchweg eine sensationelle Zeichnung erfahren und öfters in Unterwäsche und Nachtgewand auftreten – das war schon zum Schmunzeln -, weist Kratzer essentielle Bedeutung zu. Auch dem Ross Grane schenkt er entschieden mehr Aufmerksamkeit als die meisten seiner Regiekollegen. Im ersten Aufzug sieht man Siegfried und Brünnhilde nur die Zügel halten. Zu Beginn des zweiten Aufzuges erblickt man ein echtes Pferd auf der Bühne. Am Ende dieses Aktes wird ein künstlicher Pferdekadaver auf die Bühne gebracht, dem die hasserfüllte Brünnhilde dann auch gleich die blutigen Eingeweide herausreißt. Zum Schluss sieht man erneut nur die Zügel Granes. Klug war die Interpretation von Hagens Zaubertrank. Er weist überhaupt keine Magie auf, sondern besteht aus reinem Alkohol. Siegfried verträgt ihn nicht und bricht nach seinem Genuss zusammen. Am Ende erweist sich die große Meisterschaft Kratzers aufs Neue. Dem großen Weltenbrand erteilt er eine klare Absage. Ihm genügt ein winziges Lagerfeuer, in dem Brünnhilde die „Götterdämmerung“-Partitur verbrennt. Sie will als Regisseurin den Ausgang des Stückes selbst bestimmen und lässt sich von den drei Regisseuren nichts mehr sagen. Mit dem Ring in der Hand spult sie die Zeit zurück. Es kommt zu einer Auferstehung der Toten – neu war, dass sich Hagen und Gutrune gegenseitig mit einem Messer umbringen – und alles strebt wieder dem Anfang zu. Brünnhilde kehrt in ihr Boudoir zurück, in dem sie erneut auf den zu neuen Taten aufbrechenden Siegfried trifft. Das war alles sehr überzeugend und in geradezu preisverdächtiger Weise umgesetzt. Bravo!
Ks. Konstantin Gorny (Hagen), Herren des Badischen Staatsopernchores
Auch die gesanglichen Leistungen bewegten sich durchweg auf hohem Niveau. Heidi Melton war eine insgesamt mit guter Stütze und recht gefühlvoll singende Brünnhilde. Lediglich bei den Spitzentönen neigte sie etwas zum Forcieren, was aber angesichts der überzeugenden Gesamtleistung nicht sonderlich ins Gewicht fällt. Eine Meisterleistung erbrachte Daniel Frank als Siegfried. Hier geht ein neuer Stern am Heldentenorhimmel auf. Wunderbar fokussiertes Stimmmaterial, Kraft und Eleganz der Tongebung, differenzierter Ausdruck sowie eine gute Diktion formten sich zu einem sehr ansprechenden Ganzen. Hoffentlich wird Bayreuth auf diesen phantastischen Tenor in nicht allzu ferner Zukunft ebenfalls aufmerksam. Darstellerisch prägnant und stimmlich mit seinem tadellosen, ebenmäßig geführten und textverständlichen Bass in gleicher Weise gefällig präsentierte sich der Hagen von Ks. Konstantin Gorny. Gut gefiel Ks. Armin Kolarczyk, der mit in jeder Lage sauber ansprechendem, klangvollem und gut verankertem Bariton den Gunther sang. Eine stimmlich robuste, mit viel vokaler Dramatik aufwartende Gutrune war Christina Niessen. Einen stimmlich markanten, trefflich deklamierenden Alberich gab Jaco Venter. Tiefsinniges Mezzomaterial brachte Sarah Castle für die erste Norn, die Flosshilde und die Waltraute mit. Insbesondere mit der sehr emotional vorgetragenen Erzählung der Walküre im ersten Aufzug vermochte sie zu punkten. Tadellos sang Dilara Bastar die zweite Norn und die Wellgunde. Gut gefiel An de Ridder in der Partie der dritten Norn. Die gefällige Woglinde von Agnieszka Tomaszewska rundete das homogene Ensemble ab. Mächtig legten sich die von Ulrich Wagner bestens einstudierten Herren des Badischen Staatsopernchores ins Zeug.
Heidi Melton (Brünnhilde), Ks. Armin Kolarczyk (Gunther), Daniel Frank (Siegfried), Christina Niessen (Gutrune)
Eine Meisterleistung erbrachte wieder einmal GMD Justin Brown am Pult. Mit untrüglichem Gespür für die Feinheiten von Wagners genialer Musik animierte er die Badische Staatskapelle zu einem intensiven, facetten- und nuancenreichen Spiel, das von großen Spannungsbögen und vielen Farben geprägt war.
Fazit: Ein absolut erstklassiger Abschluss des neuen Karlsruher „Rings“. Die beste Götterdämmerung seit langem! Unbedingt reingehen. Es lohnt sich!
Ludwig Steinbach, 23.10.2017
Die Bilder stammen von Matthias Baus