Der Besuch des Untoten
Besuchte Vorstellung am 6. August 2022
Um den Schluß des Abends auf dem „Grünen Hügel“ gleich vorwegzunehmen: Was für einen Kontrast zum Vortag bot der brandende Beifall nach dem „Fliegenden Holländer“ zum international wahrgenommenen Buh-Gewitter nach der „Götterdämmerung“ von Regisseur Valentin Schwarz. Allerdings war dies kein Erleichterungs-Applaus für eine Inszenierung und musikalische Darbietung, in der die Welt im Bayreuther Tempel nun wieder in Ordnung ist, sondern die aufrichtige und begeisterte Würdigung einer großartigen Gesamtleistung von Regie, Solisten, Chor und Orchester.
Der psychoanalytische Ansatz von Dmitri Tcherniakov, mit der er im vergangenen Jahr die Wagner-Gemeinde überraschte, ist absolut stimmig und überzeugend, wenngleich wesentliche Handlungsaspekte stark vom Libretto abweichen. Ähnlich wie in Friedrich Dürrenmatts Drama „Der Besuch der alten Dame“ kehrt hier das traumatisierte Mitglied einer Kleinstadtgesellschaft in seine Heimatstadt zurück, um Rache für erlittenes Unrecht zu nehmen. Daland, hier ein schmieriger Kaufmann, der seine Unaufrichtigkeit hinter einer spießigen Fassade verbirgt, hatte viele Jahre zuvor ein Verhältnis mit der Mutter des Holländers und sie schmählich sitzenlassen. Seine Ablehnung und die soziale Ausgrenzung der gesamten Bevölkerung hatten die zur Außenseiterin gewordene Frau in den Suizid getrieben, den der kleine Sohn miterleben mußte.
Es dürfte für Kinder kaum etwas Schlimmeres geben, als wenn sich ein Elternteil das Leben nimmt – noch dazu vor den eigenen Augen. Diese Schlüsselszene ist hart, technisch ausgezeichnet umgesetzt und macht all das, was in der Folge passiert, plausibel. Der im Subtext zur während der Ouvertüre szenisch erzählten Vorgeschichte als „H.“ bezeichnete Kapitän befindet sich seitdem in einem psychischen Ausnahmezustand. Seine Ruhelosigkeit ist in dieser Deutung nicht die eines von Gott Verfluchten. Dies ist ein Mensch, der nicht zu gesunden Beziehungen in der Lage ist, weil die Obsession der Rache aufgrund des erlittenen Traumas ihn zum rastlosen Sucher nach etwas macht, das nur durch eine gute und langjährige Therapie zu erreichen wäre: Die innere Erlösung von der Besessenheit, sein Recht mit Gewalt durchzusetzen. Diese Version von Wahners eigentlich romantischer Oper endet entsprechend in einer Katastrophe.
Senta ist zwar auch hier bereit, sich für ihre Liebe oder vielmehr ihrer Idee davon zu opfern, aber die dramatische Zuspitzung der Ereignisse verhindert einen glücklichen Ausgang, bei dem beide, wie es in Wagners Libretto heißt, „in verklärter Gestalt“ dem Himmel zustreben. Der Konflikt spitzt sich zu, als beim fröhlichen Fest der Stadtbewohner diese die Seeleute des fremden Schiffes provozieren, weil sie durch ihr freudloses und distanziertes Verhalten auffallen.
Als sich eine handfeste Auseinandersetzung zwischen einem der Stadtleute und einem der fremden Matrosen entzündet, ballert der Holländer in die Menge und erschießt drei Unschuldige. Senta, auf ihre Weise ebenfalls besessen und jenseits der Möglichkeit einer glücklichen Lebensführung, hat sich durch eine Ohrfeige von ihrem Verlobten Erik öffentlich verabschiedet und ist immer noch bereit, sich ihrer wahnwitzigen Zwangsvorstellung hinzugeben. Währenddessen haben die Leute des Holländers die Stadt in Brand gesteckt und Chaos bricht aus.
Mary, die Lebensgefährtin Dalands, weiß offenbar um das explosive Potential dieser Konstellation und aus ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Holländer spricht ein tiefes Wissen. Kurz entschlossen erschießt sie den mörderischen Eindringling, Senta bricht erst in wahnsinniges Lachen aus, verfällt dann in apathische Resignation, der Vorhang schließt sich und nichts ist gut.
So bitter diese Interpretation ist – sie bietet endlich einmal einen anderen, glaubwürdigen Ansatz jenseits Wagners egomaner Phantasie der Erlösung des Rastlosen durch die selbstlose Liebe einer Frau, die das eigene Leben einsetzt, um den getriebenen Künstler zur Ruhe zu verhelfen. So geht das heute nicht mehr.
Der schlüssigen Neudeutung entsprechend bescherten Sängerinnen und Sänger, Musikerinnen und Musiker einer diszipliniert lauschenden Wagner-Gemeinde einen atmosphärisch dichten und spannungsgeladenen Opernabend. Oksana Lyniv hatte das Festspielorchester straff und akzentreich in der Hand, nur selten war es etwas zu laut. Der Chor unter Eberhard Friedrich war vor allem zu Beginn sehr stark, lediglich im dritten Aufzug gab es ein paar Unstimmigkeiten in der Synchronizität mit dem Orchester. Aber die leidenschaftliche Aufwallung in Vorbereitung der Konfliktszene enthielt – auch darstellerisch hervorragend – eine packende, elektrisierende Anspannung.
Georg Zeppenfeld, ohnehin eine sichere „Bayreuther Bank“ gab den unseriösen Kaufmann wunderbar facettenreich und psychologisch ausgelotet. Attilio Glasers Steuermann war grandios kraftvoll und auch spielerisch als besoffener Seemann eine Augenweide. Ganz Wagners Vorgaben entsprechend gestaltete Eric Cutler seinen Namensvetter Erik mit überzeugender Aufrichtigkeit und voller Unverständnis für Sentas Wahn. Dieser Mann ist ein echtes Opfer der entsetzlichen Geschichte. Nadine Weissmann als Mary sang mit leicht kehliger Stimme, die aber sehr gut zur Rolle der alten, mütterlichen Frau paßte, die am Ende über sich hauswächst und endgültige Tatsachen schafft – weil es die Männer ja nicht hinbekommen.
Thomas Mayers Holländer war von Beginn an weniger unheimlich als innerlich angespannt, auch bei ihm war die gut ausgearbeitete Personenregie deutlich zu vermerken. Seine starke, volle Stimme verlieh der Rolle Autorität, aber gab auch dem nach Liebe Suchenden einen geradezu zärtlichen Ausdruck. Schließlich aber verblieb, dem dramatischen Ausgang angemessen, nur noch eine brutale Härte. Elisabeth Teige, die am Tag zuvor schon als Gutrune brilliert hatte, war der unumstrittene Star dieser Aufführung. Diese Senta spielt mit dem trotzig-mädchenhaften Billie Eilish-Image und ist von Beginn an eigensinnig und dadurch stark – auch trotz des rollenimmanenten Opferstatus. Mit diesem zornigen Mädchen ist nicht zu spaßen; sie läßt sich nicht von ihrer Überzeugung abbringen und zieht ihr Ding durch. Stimmlich und spielerisch ist diese Sängerin fulminant und auch in den Extrempassagen absolut sicher.
Was für eine erstklassige Aufführung! Das Publikum gab seiner Begeisterung mit zahllosen Bravo-Rufen, Fußgetrappel und bald zum großen Teil stehend Ausdruck.
Wer das Glück hatte, dem Vortrag des Musikwissenschaftlers und Komponisten Hans Martin Gräbner im Rokoko-Saal des Steingraeber & Söhne Haus beiwohnen zu dürfen, bekam eine charmante und kenntnisreiche Einführung in das Werk mit dem Hintergrund seiner Entstehung und zahlreichen Musikbeispielen. Gräbner spielt mit Leidenschaft auf dem Liszt-Flügel und singt selbst, egal, ob Tenor oder Bariton. Seine Ausführungen würzt er mit liebenswürdigem Humor und vermittelt Details, die auch für eingefleischte Wagnerianer manches Neues enthalten. Diese regelmäßige Veranstaltung ist unbedingt empfehlenswert und rechtzeitiges Kommen angesagt!
Dr. Andreas Ströbl, 7. August 2022
Bilder (c) Nawrath