Bayreuth: „Parsifal“, Richard Wagner

Wie Absinth sieht sie aus, die giftgrüne Brühe im Teich des Kobalt-Abbaugebietes im dritten Aufzug von Jay Scheibs „Parsifal“. Ähnlich wie beim Genuß dieses ehemaligen Modegetränkes geht die berauschende Wirkung dieser Produktion mit Nebenwirkungen einher, mit denen man zuvor nicht gerechnet hat. Allerdings wird man im Bayreuther Festspielhaus nicht blind, wie es bei zahlreichen Absinth-Süchtigen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschah, sondern man sieht im Gegenteil zuviel.
So mischt sich in die helle Begeisterung über die grandiosen Leistungen von Solisten, Chor und Orchester eine Katerstimmung, die sich aus der Wahrnehmung einer Unausgegorenheit im Gesamtkonzept und nicht zu Ende gedachten Semiotik und Symbolik speist.

© Enrico Nawrath


Doch bevor gleich wieder gescholten wird: Die in dieser Dimension weltweit erstmalig angewandte Erweiterung des Bühnenerlebnisses wird Schule machen und das ist auch richtig so. „Kinder, macht Neues!“ – Wagners Zitat wurde schon am Tag nach der Premiere am 25. Juli zum Leitmotiv der Rezensenten. Nur darf man sich fragen, ob diese vom „Meister“ sicher begrüßte Neuerung entsprechend der Gesamtkunstwerk-Idee umgesetzt wurde.
Die grundsätzlich gelungene AR-Brillen-Technik von Joshua Higgason beim 2023er „Parsifal“ steckt partiell noch in den Kinderschuhen und so sind bei den bewegten oder starren Bildern, Figuren und Symbolen häufig Moiré-Strukturen, harte Pixelkanten und halbgar wirkende Übergänge zu monieren. Hier muß einmal die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der jungen Damen gewürdigt werden, die in den Pausen jede mögliche Unzulänglichkeit umgehend beheben, sei es eine dann doch nicht passende Linsenstärke oder ein drückender Nasenbogen. Vielen Dank für diese stets dienstbare Liebenswürdigkeit!
Es wird in ein paar Jahren so sein wie bei den Computerspielen, die heute wie teure Animationsfilme daherkommen: „Weißt du noch, Bayreuth 2023? Das war ja wie „Larry in the Land of the Lounge Lizards“ in den späten 80ern!“ Es wird Brillen geben, die man nicht mehr spürt, die Animationen werden sich so in das Bühnengeschehen fügen, daß es eine harmonische Einheit und keine Überlagerungen mehr sichtbar sind und es wird technisch und finanziell machbar sein, daß jede und jeder sich von so einer erweiterten Realitätswahrnehmung beindrucken lassen und in phantastische Parallelwelten entführen lassen kann.
Noch! – und das kann gar nicht fett genug gedruckt werden – noch genügt dazu auch die überirdisch schöne Musik des „Parsifal“ und deren glanzvolle Umsetzung. Das Festspielorchester unter Pablo Heras-Casado beherrscht das ganze Spektrum dieser Musik von der zartesten Zauberhaftigkeit, ja schmeichelnden Mystik, wie in der Karfreitagsszene bis zur drängenden Dynamik in den Passagen, die existentielle Not und Bedrohungen illustrieren. Das Weihevolle dieses Bühnenfestspiels entfaltet sich in aller hohen Feierlichkeit, ohne an Pathos auch nur denken zu können. Dafür sorgt auch das frische Tempo, das aber niemals ins Hetzen gerät. Das Orchester hätte sogar etwas lauter spielen dürfen; Casado hat sich mit Behutsamkeit, aber frischem Wagemut den Tücken des Bayreuther Grabens hingegeben und läßt niemals zu, daß Solisten oder Chor übertönt werden.
Das ist bei letzterem auch kaum möglich, denn unter der Leitung von Eberhard Friedrich singt der Chor in einer Akkuratesse und zugleich Leidenschaft, die in den zurückgenommen-delikaten Stellen ebenso zu erleben ist wie in den Szenen, in denen sich die Gralsritter als gierige, egomane Truppe erweisen, die einen der zentralen Inhalte der Oper, das Mitleid, nicht kennt. Der Gesang ist hier wuchtig, hart und unbarmherzig, was beim Hören einen echten Schauer verursacht.

© Enrico Nawrath

Das Zusammenspiel mit den Solisten ist ausgewogen und in jedem Moment harmonisch. Und diese Sängerinnen und Sänger sind allesamt brillant. Die Partie des Gurnemanz liegt nach eigenem Bekunden dem Baß Georg Zeppenfeld stimmlich und inhaltlich am meisten und erneut beweist er, wie er die facettenreiche Rolle ausfüllt. Seine glasklare Diktion auch in den Piano-Passagen ist schon sprichwörtlich, auch in den letzten Reihen ist jedes Wort verständlich – in allen Nuancierungen von väterlich-mahnend bis zu freundschaftlich-innig.
Andreas Schager füllt stimmlich all die Lücken, die eine etwas zaghafte Personenregie gelassen hat. Sein Parsifal ist als tumber Tor ebenso glaubhaft wie als neuer Gralskönig; es ist ja kaum zu glauben, was dieser Mann jeden Abend in einer anderen Hauptrolle leistet. Sein Tenor ist voller warmer Kraft und auch in den Forte-Stellen, in denen seine Stimme in jede kleine Klinze des Saales dringt, ist seine Modulation stets treffsicher.
Beim Duett mit Kundry lohnt es, mal unter die AR-Linsen zu lugen, denn da verdecken Bäume das emotional dichte Zusammenspiel der beiden. Die Verführerin ist Elīna Garanča und sie gibt der durch eine miese Inkarnation nach der anderen wandernden Sünderin eine psychologisch ausgefeilte Vielschichtigkeit. Ja, man hat auch Mitleid mit ihr, aber sie ist durchaus selbstbewußt und nicht auf die Rolle der Dienerin reduziert. Das gelingt ihr, indem sie ihren ungemein kraftvollen Mezzosopran erhebt und mit der Schönheit ihrer Stimme das Bild einer eben tatsächlich verführerischen, weil schönen Frauenfigur vollkommen abrundet.
Man mag kaum fassen, wie sich die Gralsritter gegenüber Amfortas verhalten, denn Derek Walton bittet so eindringlich um Erbarmen, daß beim Hören dieser Klage die Tränen kaum zu unterdrücken sind. Dieser starke Bariton überzeugt durch seine abgerundete Klarheit und Eindringlichkeit, auch bei ihm ist die Textverständlichkeit sehr gut.
Die größeren Nebenrollen sind ebenfalls hervorragend besetzt, so der diabolische Klingsor mit Jordan Shanahan, der dem Zauberer eine ernstzunehmende Gefährlichkeit verleiht. Tobias Kehrers Titurel singt mit gruseliger Grabesstimme und wirkt alles andere als halbtot, zumal nach der verjüngenden Wirkung des Grals.

© Enrico Nawrath

„Wer ist der Gral?“, fragt Parsifal bekanntlich im ersten Aufzug. Jay Scheib beantwortet die Frage mit einer Regie-Idee, die viel besser in die Kapitalismuskritik des „Rheingolds“ passen würde, denn der Gral ist ein blauer Kristall, der für die Kobaltausbeutung unter menschenverachtenden Bedingungen steht und den systemimmanent folgerichtig Parsifal ganz am Ende in Tausend blaue Scherben zerspringen läßt. Das muß einem aber erstmal gesagt werden, denn zwar wirkt die rostige Maschine im dritten Aufzug reichlich dystopisch, aber auf der Bühne von Mimi Lien sehen die Mitwirkenden in den bunten Kostümen von Meentje Nielsen eher nach lässiger Freizeitgestaltung aus, als daß man hier die ausbeuterischen Bedingungen in den Kobaltminen Kongos assoziieren mag.
„Alles so schön bunt hier!“, möchte man mit Nina Hagen ausrufen und ja, es ist schön bunt, gerade in Klingsors Zaubergarten. Aber weshalb manche der Blumenmädchen Heiligenscheine tragen, ist unklar. Oder verbirgt sich hier das Wortspiel mit der Scheinheiligkeit? Die Hosenanzüge einiger der Mädchen sehen sicher schick aus, wirken aber weder lasziv noch lässig.
Zwar schwirren in der AR-Darstellung Speere auf die Zuschauer zu, aber Parsifal nimmt Klingsor die merkwürdig verbogene Waffe einfach weg. So weit her kann es mit der Macht des Zauberers also nicht sein. Oder?
Zugegeben – manche der Effekte sind wunderschön, zum Beispiel die Glühwürmchen und Irrlichter, die manche Szenen durchschwirren. Auch die Täubchen und die Schwäne wirken anmutig und in letzterem Falle, mitleiderregend, wenn gleich mehrere Schwäne vom einem Pfeilhagel, der den englischen Bogenschützen bei Azincourt alle Ehre gemacht hätte, mit reichlich spritzendem Blut, tödlich getroffen werden. Eine Fliege läßt sich auf der Brille nieder und putzt sich die Beinchen. Naja, weil man´s halt kann.
Aber weshalb sitzt und läuft auf einem Felsen ein Fuchs, der niedlich gähnt, aber symbolisch so gar nichts hergibt (List? Schlauheit?), nachdem dieser steinige Grund eben noch der eines Ozeans voller Plastikflaschen und -tüten war? Die Plastiktüte läßt natürlich auch an die Umweltverschmutzung denken, aber dazu ist sie zu lange im sich verändernden Bild. Wer sich an die Berichterstattung am Abend des 11. September 2001 erinnert, weiß, daß es an diesem Tag noch wenig Bildmaterial gab. Wie verzweifelt wirkte da der immer wiederholte Kameraschwenk in den staubbedeckten Innenraum eines der getroffenen Gebäude, in dem immer so eine graue Plastiktüte umherschwebte. Ist dies das Bild – es ist etwas Furchtbares passiert, aber man kann es (noch) nicht darstellen?
Weshalb muß der Ouroboros als Sinnbild für die Ewigkeit nicht nur eine Klapperschlange sein, die sich in den Schwanz beißt, sondern auch noch umherschlängeln und zuschnappen? Geht es hier um christliche-jüdische Symbolik wie beim Lamm und dem Thorazeiger? Und warum entströmt nicht nur den Händen der fußwaschenden Kundry das frische Wasser, sondern auch den Kobaltbrocken? Scheib opfert hier Inhalt und Aussage einer überbordenden Bildsprache, die in der Reduktion sicher mehr Sorgfalt für das Detail erlaubt hätte.

© Enrico Nawrath


Daß das Festspielhaus wie Klingsors Burg zusammenbricht, stellt einen reizvollen Bezug zum Hier und Jetzt dar, des Zauberers Hörnerhelm (den er auf der Bühne trägt und der in der AR später nochmals auftaucht) aber wirkt in seiner Archaik unpassend – wahrscheinlich soll er „irgendwie kriegerisch“ anmuten.
Eine interessante Idee ist, daß man selbst mit seinem schweifenden Blick rotblühende Blumen abmähen und entblättern kann; man kann wählen, ob man hier wütet oder sich sensibel zurückhält.
Man hätte aber doch die Gelegenheit nutzen können, um die, sozusagen von der Zinne wiedergegebene, Schilderung des Kampfes Parsifals mit den verführten Rittern endlich mal realistisch darzustellen, aber es gibt nur eine ganz kurze Ninja-Kämpfer-Sequenz. Dafür reißen reichlich Totenköpfe, die immer merkwürdig transluzid und daher eben „nur“ animiert wirken, das fleischlose Maul auf.
Die schönste Idee ist die allerletzte, wenn man die Taube im Strahlenkranz mit dem Bewegen des eigenen Kopfes dahin plazieren kann, wo man will. Da erübrigt sich jeder altertümliche Streit mit dem katholischen Papp- oder Holzvogel am Schnürchen – man wählt einfach, ob der Vogel segnend über der Szenerie schwebt oder sich nach unten oder der Seite hin verflüchtigt.
Keinen Zweifel an der musikalischen Darbietung läßt jedenfalls der brandende Beifall mit Hunderten von Bravo-Rufen und Fußgetrappel auf dem altehrwürdigen Bretterboden. Der Chor bekommt verdient zwei Vorhänge und die Solisten werden angemessen gefeiert. Sie genießen es auch, vor allem Andreas Schager mit großen Umarmungsgesten und Georg Zeppenfeld mit nobler Haltung.
Daß sich in den Applaus für Heras-Casado Buhrufe mischen, ist einfach nur dumm. Man kann seine Leistung vielleicht nicht überragend finden, aber dies Geblöke hat den Beigeschmack von selbstgefälligem Beckmessertum.
Mal schauen, wie die „Werkstatt Bayreuth“ an dieser Inszenierung bastelt. Das ist ja das Schöne dort – nächstes Jahr wird wieder alles anders!

Andreas Ströbl, 31. Juli 2023


Richard Wagner: Parsifal
Festspielhaus Bayreuth

Besuchte Vorstellung: 30. Juli 2023

Musikalische Leitung: Pablo Heras-Casado
Inszenierung: Jay Scheib
Orchester der Bayreuther Festspiele