Bayreuth: Rückblick auf den „Parsifal“ (ohne AR-Brille)

Ernüchterung ohne Augmented-Reality-Brille

Im zweiten Jahr des neuen „Parsifal“ in der Regie von Jay Scheib entschied ich nach der negativen Erfahrung mit der im Premierenjahr 2023 allzu vollmundig angekündigten Augmented Reality – AR-Brille, mich auf meine eigene zu verlassen. Die AR-Brille hatte ich damals nicht als Augmented Reality sondern als Augmented Phantasy-Brille bezeichnet (s. weiter unten), da sie mit den gezeigten Inhalten nahezu nichts zu einem weiter- und möglicherweise gar tiefergehenden Verständnis des Bühnenweihfestspiels und auch recht wenig zum Verständnis des extravaganten Regieansatzes von Jay Scheib beitrug. Zudem war sie viel zu schwer und für stundenlanges Sitzen auf dem Kopf völlig ungeeignet.

© Enrico Nawrath

Im 3. Aufzug sah man 2023 in den letzten vier Reihen des Festspielhauses, für die allein die Brille aufgrund technischer Gegebenheiten geeignet ist, nur noch wenige, die sie auf der Nase hatten. Bei meiner Befragung im Vorjahr unmittelbar nach der Aufführung, warum, kamen die genannten Bedenken. Ein teures Experiment ging damit schon im Premierenjahr gleich wieder zu Ende, obwohl man sich das hätte sparen können. Denn die Grenzen des Konzepts waren bereits am Landestheater Linz im September 2004 mit der Premiere eines neuen „Ring des Nibelungen“ im Brucknerhaus mit dem „Rheingold“ zu erkennen, die mit 3D-Brillen (Virtual Reality – VR) lief. Dann wieder im Jahre 2020, als man am Staatstheater Augsburg Glucks „Orfeo ed Euridice“ in einer virtuellen Welt, einer Virtual Reality, mit einer klobigen 3D-Brille auf der Nase erleben konnte, deren Aufsetzen zu den entsprechenden Momenten von der Bühne aus – störend – signalisiert wurde.

Schon damals regten sich große Zweifel, dass so etwas für das Wagnersche Musiktheater relevant sein könnte und überhaupt je Bestand haben würde. Nun weiß man auch in Bayreuth mehr, obwohl man doch die damals noch laufende „Orfeo“-Produktion in Augsburg hätte sehen können, um zu ermessen, was da am Grünen Hügel auf einen zukommen würde. In diesem Jahr konnte die AR-Brille in den hinteren Reihen immer noch (wie 2023 gegen Aufpreis) genutzt werden, obwohl allgemein gar keine Rede mehr von ihr war.

Die Inszenierung von Jay Scheib mit der Bühne von Mimi Lien, den Kostümen von Meentje Nielsen, dem Licht von Rainer Casper und dem AR Design und Videos von Joshua Higgason stellt sich also ohne AR-Brille in einem ganz anderen „Licht“ dar wie ursprünglich mit ihrer gesamten Konzeption beabsichtigt. Sie ist ohne die AR-Brille also gewissermaßen nur eine halbe oder zumindest partielle Inszenierung, was bei einer Rezension zu berücksichtigen ist und sowohl negative wie positive Effekte haben kann. Beide hielten sich in etwa die Waage, auch wenn man bedenkt, dass die Bildwelten der AR-Brille das tatsächliche Geschehen auf der Bühne signifikant überlagern und durch ihre oftmals überraschenden und zusammenhanglosen Inhalte einiges an Konzentration auf die Musik aus dem mystischen Graben, der ja gerade bei „Parsifal“ besonders mystisch ist, verloren geht.

Nun traten natürlich Bilder besonders stark hervor, vor allem solche auf Video-Basis, die bei Wegfall der AR-Brille, insbesondere im 1. Aufzug, eine viel zu große optische und damit auch dramaturgische Bedeutung erlangten. So war während der gesamten Gurnemanz-Erzählung, und die ist bekanntlich nicht kurz, auf einer bühnenhohen Leinwand im Hintergrund die chirurgisch höchst unprofessionelle Behandlung einer riesigen blutenden Wunde zu sehen, sodass man sich vorkam wie in einem OP. Immer wieder große Blutmengen, Abtupfen, Abtrocknen, Cremeauftrag etc., sodass man sich durchaus fragen konnte, ob das für jedermann überhaupt verkraftbar wäre. Im hinteren Parkett verließen jedenfalls da schon mehrere Zuschauer das Haus. Denn nicht jeder kann so viel Blut sehen. Nun gut, klar, es war die Wunde des Amfortas, „die nie sich schließen will“ und Scheib wollte mit dieser optischen Intensität symbolisch wohl auf die Zerrissenheit der US-amerikanischen Gesellschaft nach der Tötung von George Floyd 2020 und die daraufhin immer weiter fortschreitende Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft anspielen. Nicht jeder im Publikum mag das so verstanden haben. Nachdem auch mit dem Blut des abgeschossenen Schwans noch eine Weile pseudomedizinisch herumgewurschtelt wurde, verschwand dieses Video endlich und man konnte vor einem himmelblauen Rundhorizont endlich wahrnehmen, dass sich auch noch etwas auf der Bühne tat. Auf einmal traten alle Figuren um Gurnemanz und Parsifal hervor. Es wirkte wie eine theatralische Labsal…

Es nervt allerdings einen, manchmal auch zwei – vor allem in der Blumenmädchen-Szene – über die Bühne wuselnde Kameramänner zu sehen, die alle Protagonisten und Szenen-Elemente aus nächster Nähe filmen und damit dem Bühnengeschehen viel Authentizität entziehen. Das ist doch ein mittlerweile völlig abgedroschener postmoderner Inszenierungs-Topos und sollte einfach unterbleiben. Die Kameraleute kamen auch noch vor den Vorhang zum Applaus, als seien sie Teil des Sängerensembles…

© Enrico Nawrath

Wir sehen auf der Bühne also ohne AR-Brille viel besser einen im Grunde relativ normal bzw. unaufgeregt inszenierten „Parsifal“ – das würde man nicht gerade als Regietheater bezeichnen. Bei einigen durchaus phantasievollen und gar zauberhaften Bildern in Klingsors Zaubergarten im 2. Aufzug hätte die Personenregie jedoch auch im zweiten Jahr der Produktion noch um einiges intensiver sein können. Es lag das Hauptinteresse des im Prinzip opernmäßig ja noch relativ unerfahrenen Regieteams, was in Bayreuth in den letzten Jahren aber oft kein Problem bei Produktions-Vergaben war, auf der visuellen Komponente, sei es mit oder ohne AR-Brille.

Die handfeste Real-Thematik im 3. Aufzug mit dem Abbau seltener Erden als wichtige Rohmaterialien für den Industrie-Prozess, insbesondere wohl Lithium und Kobalt für den Autobatterien-Bau mit ihrem nur vermeintlichen Beitrag zur Umweltschonung, ist weiterhin eins zu eins zu sehen und weiterhin auch mit dem „Parsifal“ Stoff kaum zu vereinbaren, auch wenn der Gral nun als türkiser Lithium-Block dargestellt wird, den Parsifal im Finale zerspringen lässt. Das erscheint schon sehr weit hergeholt, entfaltet sich dramaturgisch in der Inszenierung auch überhaupt nicht aus den beiden Aufzügen zuvor. Da hätte man in dieser Hinsicht schon früher klarer auftragen müssen, als es auf einmal aus blauem Himmel im Final-Akt aufzutischen. Aber hier ergibt sich eben auch eine große Lücke in der Wahrnehmung der Inszenierung mit und ohne AR-Brille. Mit AR-Brille werden die ganzen Umweltschäden mit dem Rohstoffabbau überdeutlich thematisiert. Auch hier also nur die halbe Wirkung der „brillenfreien“ Wahrnehmung.

So war auch dieses Jahr, zusammen mit dem Dirigat des spanischen Maestro Pablo Heras-Casado, das Erhellendste an dieser Produktion das Sängerensemble. Er schuf mit dem Festspielorchester nach seiner mit dem „Ring“ am Teatro Real in Madrid über vier Jahre gemachten Wagner-Erfahrungeinen bewegten und pastosen „Parsifal“-Klang und machte einmal mehr klar, wie sehr gerade dieses Meisterwerk Wagners in den mystischen Abgrund des Bayreuther Orchestergrabens passt. Es scheint, als hätte sich Heras-Casado nun an die besondere Schlagtechnik in Bayreuth gewöhnt. Er legte dieses Jahr bessere Tempi und auch dynamischere Crescendi an. Dieser Maestro wird sicher eine Bank für Kommendes in Bayreuth werden.

Wieder prachtvoll war der Festspielchor unter der Leitung von Eberhard Friedrich mit phantastischer Diktion – man verstand jedes Wort dieser konsonantenverliebten Wiedergabe. Wer weiß, diplomatisch ausgedrückt, ob es eine gute Idee war, ganz abgesehen von den enormen mit der Wiederbestellung verbundenen Kosten, den Festspielchor nun ganz aufzulösen und alle, auch die mit großer Erfahrung lange am Haus singenden Choristen zum Vorsingen zu bitten. Das ist nach langer Zeit des Nicht-Vorsingens auch ein psychologisches Problem für manchen und kann im negativen Fall die Bayreuther Festspiele um langjährig erfahrene und auch weiterhin gute Choristen bringen, die auch eine Tradition weitertragen und eben Bayreuth-spezifische Erfahrung haben. Und das wäre gerade im Falle des neuen Chordirektors von Bedeutung, der gar keine Bayreuth-Erfahrung hat, wie es bisher hier die Regel war, i.e. Balatsch von Pitz und Friedrich von Balatsch. Das Haus hat eben seine ganz speziellen Besonderheiten! Daran haben schon ganz andere verzweifelt, unter anderen Georg Solti. Es ist nicht auszudenken, wenn das riskante Experiment der Chor-Auflösung ins Auge ginge und dann ein Qualitätsgarant der Festspiele seit Helmut Pitz 1951 an Bedeutung verlöre. Das könnte man sich auch hier nicht leisten.

© Enrico Nawrath

Georg Zeppenfeld war wieder der souveräne und überaus wortdeutliche Gurnemanz. Er gestaltet die Partie, wie alle von ihm verkörperten, immer wieder spannend und mitreißend, und das bei einer ungemein warmen, aber auch zu Ausbrüchen fähigen Stimme, bei stets passender Mimik. Andreas Schager war trotz seiner völligen Verausgabung zwei Tage zuvor als Tristan in der Festspielpremiere ein sehr guter und diesmal auf vokale Linie bedachter Parsifal, auch mit schöner Lyrik im 3. Aufzug, mit natürlich wie immer fesselndem Spiel. Tobias Kehrer war ein stimmlich hervorragender und auch nachvollziehbar leidender Titurel. Wann endlich bekommt dieser Edel-Bass größere Aufgaben?! Derek Welton konnte mit seiner vokalen Leistung nicht an das große Format seiner Vorgänger anschließen, wenn man beispielsweise an Bernd Weikl denkt, insbesondere nicht im finalen Monolog. Darstellerisch machte er seine Sache gut. Ekaterina Gubanova sang wie in Wien eine gute und wortdeutliche Kundry mit hoher Belastbarkeit bei den Spitzentönen im Finale des Mittel-Aufzugs.Die letzte Raffinesse, die Elīna Ganača letztes Jahr an den Tag legte, erreichte sie nicht. Jordan Shanahan fällt auch immer mehr für höhere Aufgaben auf. Sein Klingsor war in ungewöhnlicher Optik von großer Dramatik und hoher bassbaritonaler Qualität. Er hätte auch gut den Amfortas singen können.

So wird dieser noch neue „Parsifal“ wohl weiter ohne AR-Brille leben müssen. Ob und inwieweit die legendäre, aber in letzter Zeit immer weniger zu beobachtende „Bayreuther Werkstatt“ zu einer brillenlosen Verbesserung der Inszenierung führt, steht in den Sternen…

Klaus Billand, 31. August 2024


Parsifal
Richard Wagner

Bayreuther Festspiele

Besuchte Vorstellung: 27. Juli 2024

Inszenierung: Jay Scheib
Musikalische Leitung: Pablo Heras-Casado
Bayreuther Festspielorchester