Levente Gyöngyösi (8.6.1975*)
13.2.2021 (Lifestream der szenischen Uraufführung).
Ein gefälliger Stilmix vereinfacht Bulgakows Klassiker
Während der Renovierungsarbeiten am altehrwürdigen Miklós Ybl-Haus der Ungarischen Staatsoper in der Andrássy út 22 hat diese von der ungarischen Regierung den 22.000m2 umfassenden ehemaligen Reparaturkomplex der Nordbahn in der Kőbányai út 30 im 10. Bezirk erworben. Dieser umfasste fünf Hallen, in welche das nach Graf Miklós Bánffy von Losoncz (1873-1950), einem ungarischen Großgrundbesitzer, Politiker und Autor historischer Romane benannte Theater, eine ehemalige Lokomotivhalle, integriert ist. Es bietet Platz für 400 Besucher. Der Komplex enthält auch die Sándor Hevesi-Probebühne in der Größe der Bühne des Opernhauses, benannt nach dem ungarischen Dramatiker, Übersetzer, Regisseur und Theaterdirektor Sándor Hevesi (1873-1939) und das nach dem Dirigenten Ferenc Fricsay (1914-63) benannte Studio für Aufnahmen. Neben dem Umzug aller neun Produktionswerkstätten der Ungarischen Staatsoper, aller Sets, Kostüme und Requisiten enthalten die neuen Eiffel Art Studios auch eine Gedenkhalle für János Feketeházy (1842-1927), den Bauingenieur der eisernen Dachkonstruktion des ungarischen Opernhauses. Nähere Informationen: https://www.opera.hu/en/about-us/eiffel-art-studios-8211-the-opera8217s-new-art-complex/
Levente (Jonathan) Gyöngyösi wurde am 8.6.1975 in Klausenburg (Kolozsvár / Cluj-Napoca – Rumänien) geboren und kam wenige Wochen vor Ausbruch der rumänischen Revolution (1989) nach Budapest, wo er sein Musikstudium am Béla Bartók Konservatorium mit den Schwerpunkten Komposition (István Fekete Győr) und Klavier (Katalin Sweitzer) begann und später an der Ferenc Liszt Musikakademie bei György Orbán fortsetzte. Seit dem Jahr 1999 ist er als Continuo-Spieler ständiges Mitglied des Budapester Orfeo-Orchesters und unterrichtete zwischen 2002 und 2010 Musiktheorie an der Budapester Musikakademie. Seit 2018 arbeitet er als freiberuflicher Komponist für das Budafoki Dohnányi Orchester.Bekannt wurde er vor allem als Chorkomponist. 2008 erhielt er den Artisjus-Preis, den der Verfasser dieses Berichtes ebenfalls (2005) erhalten hatte.
Der bekannteste Roman des sowjetischen Schriftstellers Michail Bulgakow (1891-1940), „Der Meister und Margarita“, wurde bereits von Rainer Kunad (1936-95) und später von York Höller (1944*) als Oper vertont. Nun hat sich Levente Gyöngyösi an diesen gewaltigen Stoff herangewagt und seine Version als Opernmusical bezeichnet. Seine erste Oper, "A gólyakalifa" (Der Storchenkalif), nach dem Roman von Mihály Babits (1883-1941), wurde 2005 an der Ungarischen Staatsoper uraufgeführt.
Am 24.6.2017 erfolgte zunächst eine konzertante Aufführung des neuen Opermusicals im Rahmen des Miskolc Opern Festivals. Das zweiaktige Libretto stammte von Szabolcs Várady (1943*) und basiert auf dem von Robert Bognár (1947*) und András Schlanger (1961*) erstellten Szenario. Die beiden Protagonisten sind in der Oper jünger als im Roman, etwa Ende 20. Von den drei Hauptthemen des Romans, der Liebes-, Passions- und Gesellschaftsgeschichte, wurde vor allem letztere stark vereinfacht.
Zum Inhalt: Der erste Akt spielt in Moskau um 1930. Die Menschen gehen ihrem fleißigen sowjetischen Leben nach. Mikhail Masterov beendet sein Buch über Pontius Pilatus, aber die sowjetische Schriftstellervereinigung unter dem Vorsitz von Berlioz verbietet Buch und Autor. Margarita Nikolaevna, die Protokollführerin, verliebt sich in Masterov, d.h. den Meister, der aber von der Polizei in eine Irrenanstalt gesperrt wird. Hierauf erscheint Woland, Satan selbst, und präsentiert sich den Schriftstellern Berlioz und Ivan als Professor für schwarze Magie. Er lässt vor ihren Augen das erste Kapitel des Meisterbuchs, in dem sich Pilatus, Jesus und der Hohepriester Kaiphas im Jerusalem des 1. Jhd. treffen, erstehen. Woland prophezeit den Tod von Berlioz, der sofort eintritt. Durch diesen Schock wird Ivan verrückt und gleichfalls in die Irrenanstalt gesperrt. Margarita, zurückgelassen, will Selbstmord begehen, wird aber von Wolands Dienern gerettet. Ungebetene Gäste ziehen in Berlioz leer gewordene Wohnung und planen eine Sonderaufführung im Varieté-Theater, welches auf einer Tafel in Leuchtschrift auf Russisch „Zirkus und Varieté" genannt wird.
Dem Publikum wird vorgegaukelt, wie man schnell reich wird. Nachdem ihnen alles genommen wurde, werden auch sie verrückt. Der zweite Akt spielt in der Irrenanstalt von Professor Strawinsky. Iwan überredet den Meister, seinen Roman fortzusetzen. Matthäus Levi versucht, Jesus zu töten, um sein Leiden am Kreuz zu lindern, aber er scheitert und wird gefangen genommen. Auf Pilatus Befehl tötet der Leibwächter Judas und lässt die Bestrafung wie einen Selbstmord erscheinen. Wolands Diener übermitteln Margarita eine Einladung ihres Meisters. Wenn sie die Rolle der Gastgeberin beim Vollmondball spielt, wird ihr Geliebter, der Meister, zu ihr zurückgebracht. Bei Satans Ball sind alle berühmten Mörder und Schurken der Geschichte anwesend. Margarita wird tatsächlich zu ihrem Geliebten und als Wolands Geschenk zum Meister zurückgebracht. Matthäus Levi erzählt Woland, er solle den Meister und Margarita mitnehmen. Im ewigen Konflikt von Licht und Schatten beleuchtet Woland dann das Wesentliche ihrer Geschichte: Sie können nicht ohne einander existieren, so wie das Gute ohne das Böse keine Bedeutung hat.
Der Meister und Margarita nehmen Satans Angebot an und verschwinden aus Moskau.
Der Komponist Gyöngyösi bietet für sein Opernmusical ein großes Sinfonieorchester, dreifache Holzbläser, 4 Hörner, 4 Trompeten, unzählige Schlaginstrumente und in einer Hard-Rock-Sequent auch 2 E-Gitarren, eine Bassgitarre und 2 Synthesizer auf. Der Reiz der Musik entsteht durch eben diese Verschmelzung von zeitgenössischer Opernmusik, inspiriert von Mozart und Verdi als Ausdrucksmittel der Protagnisten dieser Oper, und Rock-, Varieté- und Musicalmusik, als Stilmittel von Woland und seiner Entourage, aber auch von Pilatus. Barocke Musikanklänge wechseln sich mit romantischen Opernarien, sowjetische Marschmusik mit rockigen Duetten ab. Die eingängigen Melodien quellen kraftvoll aus dem Orchestergraben und aus den Kehlen der Singenden. Dazu mischen sich noch gewaltige Chorszenen. Es gibt in diesem Opernmusical 10 Hauptfiguren, die von 2 Sopranen, 1 Countertenor, 4 Tenören, 1 Baritonen und 2 Bässen gesungen werden. Nach den Worten des Komponisten in einem Interview mit Diána Eszter Mátrai handelt es sich um eine „männlich zentrierte Oper, aber diese Männer drehen sich alle um eine Frau“.
Aufgrund der Vielzahl der Personen mussten folgerichtig auch mehrere Rollen von einer Person übernommen werden. Alle Mitwirkenden sangen mit Micropods versehen und spielten, ohne Abstufung, mit Aplomb: Tenor Péter Balczó (der Meister / der wandernde Philosoph Jeshua Ha-Nozri), Sopran Orsolya Sáfár (Margarita, Sekretärin der Sowjetischen Literaturgesellschaft), Bassist Péter Kálmán (Woland), Bassbariton István Kovács (Irrenhausdirektor Professor Stravinsky / Poncius Pilátus), Bassbariton András Hábetler (Berlioz, Vorsitzender der Sowjetischen Literaturgesellschaft /Hohepriester Kajafás), Tenor Donát Varga (Ivan, ein obdachloser Autor / Lévi Máté), Tivadar Kiss (Chorleiter Fagót). In kleineren Rollen waren noch Sopran Ildikó Szakács (Hexe Hella), Countertenor Zoltán Gavodi (schwarze Riesenkatze Behemót), Schauspielerin Alexandra Likovics (Annuska / Sklavin), Bassist Jenő Dékán (Kritiker Latunszkij / Júdás), Bass András Kőrösi (Polizist / Afranius, Chef des Geheimdienstes), Bass András Kiss (Pflegeleiter / Ratten tötender Zenturio), Tenor Bence Gulyás (Hausmeister Boszoj), Mezzosopran Éva Várhely (Krankenschwester in der Nervenklinik) und Bass Balázs Csémy (Conferencier).
Einige Studierende der Musikakademie traten in nachstehenden Rollen auf: Róbert Erdős (1. Krankenpfleger / der betrunkene New Yorker Vampir Jimmy) – Boldizsár Zajkás (2. Krankenpfleger / der betrunkene New Yorker Vampir John), András Farkas (1. Mann / Betrunkener / Monsieur Guillotine), Balázs Papp (2. Mann / ein wichtiger Kamerad / Kaiser Nero), Gabriella Rea Fenyvesi (Junge Frau im Varietétheater / Lucrezia Borgia), Alexandra Ruszó (Putzfrau).
An der Aufführung wirkten noch Eszter Bako, Sára Nagyhegyi, Noémi Takács, Laura Tomasovszky, Vilmos Picard und Zsolt Szlavkovszki, als Akrobaten des Ungarischen Luftgymnastikverbandes sowie als Tanzende des Ungarischen Nationalballetts Csilla Arany, Ildikó Boros, Sofia Demesh, Zsófia Gyarmati, Erika Kolotova, Eszter Lovisek, Zsuzsanna Papp, Lilla Purszki, Ágnes Riedl, Sára Weisz, Levente Bajári, Victor Gonzalez-Perez, Péter Hajdu, Noel Ágoston Kovács, Leo Lecarpentier, Louis Scrivener, Roland Vékes Ricardo M. Vila und Dmitry Zhukov mit.
Für die ausgelassene Choreographie sorgte Péter Lajos Túri, die akrobatische Choreographie lag in den Händen von Tünde Vincze. Der unter dem Logo Kentaur tätige Künstler László Erkel (1965*) kreierte das stalinistisch-totalitär wirkende Bühnenbild und die, den jeweiligen Zeitepochen, entsprechenden Kostüme. Für die raschen Szenewechsel setzte er eine Drehbühne ein, auf der sich ein Stahlgerüst mit Stufen an den Seiten und in der Mitte befand. Die passende Einleuchtung der Szenen hatte János „Madár“ Madarász über. Gábor Csiki leitete wieder einmal versiert den Chor der Ungarischen Staatsoper. Dirigent Gábor Hollerung kam die schwierige Aufgabe zu, die unterschiedlichen Musikstile, die während der Aufführung sehr rasch wechselten, zu einem harmonischen Gefüge zu formen, sodass keine Längen entstanden und das Hybrid „Opernmusical“ formvollendet erklang. Dem 1981 geborenen Schauspieler und Regisseur Vajk Szente gelang es die drei Handlungsstränge nachvollziehbar und stringent auf die Bühne zu stellen und er schreckte auch nicht vor drastischen Szenen zurück wenn, beispielsweise, das abgeschlagene Haupt von Berlioz auf dem Boden erscheint und eine Tänzerin diesen – wie Salome – ergreift und mit ihm tanzt.
Witzig fand ich den Einfall Margarita in einer Szene auf einem Besen – wie Mary Poppins – über die Bühne fliegen und dabei auch noch singen zu lassen. Die Aufführung dürfte vor Publikum gespielt worden sein, das lässt zumindest der Applaus nach den beiden Akten vermuten. Anders als bei uns, wo die Kulturtempel trotz der hervorragenden Sicherheitskonzepte, nach dem Willen einer an Kultur offenbar nur wenig interessierten Bundesregierung weiterhin geschlossen halten müssen! Hierzulande kann man auch ohne EU keinerlei Entscheidungen treffen! Anders als in Ungarn, wo man bereits – auch ohne Zustimmung der EU – den russischen Covid-19-Vektorimpfstoff Sputnik V angekauft hat! Ob dieses Opernmusical wirklich der große Wurf von Komponist Levente Gyöngyösi geworden ist, wird die Zukunft zeigen. Die sich in traditionellen Bahnen bewegende Musik überfordert jedenfalls die Zuhörenden nicht.
Harald Lacina, 16.2.21
Fotocredits: Péter Rákossy