Nachdem der erste Band herausgekommen war, den ich schon begeistert rezensiert habe, schrieb ich dem Autor, dass er doch bitteschön einen zweiten Band über Die Walküre nachfolgen lassen solle. Denn das, was Will Humburg 2021 vorgelegt hatte, war so erstaunlich, tiefgründig und präzis, dass man sich ein wenig wunderte, wieso Vergleichbares noch nicht geschrieben worden war.

Gewiss: Auf dem reich bestückten Wagnerbüchermarkt gibt es jede Menge Arbeiten über die Psychologie und den Stoff, die Philosophie und Aufführungsgeschichte, die Politik und sogar die Physik des Ring des Nibelungen. Es ist bekannt, dass der Anteil der rein musikwissenschaftlichen Bücher über Wagners Werke im Vergleich zu den anderen Fachgebieten seltsamerweise relativ klein ist; immer noch wird gelegentlich, mit wenig Recht, Alfred Lorenz’ historisch gewordene Studie zur Form des Ring ausgegraben und herangezogen. Will Humburg aber nahm sich vor, die gesamte Partitur einschließlich der Parameter Instrumentation und Rhythmus des Rheingold interpretatorisch, also bezogen auf die Handlung und die Psychologie der Figuren, auch in Bezug auf das große Ganze der ca. 14 bis 16 Stunden dauernden Tetralogie, en detail so genau zu erläutern, dass sowohl ein musikwissenschaftlich gebildeter Mensch wie auch ein musikliebender Laie von Grund auf versteht, was eigentlich (und uneigentlich) in der wichtigsten Schicht des Ring passiert. Heraus kam zunächst das durchaus spektakuläre Ergebnis – der Laie staunt, der Fachmann wundert sich, wie man so schön sagt –, dass nicht erst in der Walküre oder gar im Siegfried die Dichte der motivischen, harmonischen, rhythmischen und farblichen Bezüge so eng ist, dass von einem ununterbrochenen, Takt für Takt gearbeiteten Gewebe geredet werden kann, welches Thomas Mann das Wort vom „Beziehungszauber“ der wagnerschen Erinnerungsmotive reden ließ. Nun also Die Walküre! Man wundert sich nicht darüber, dass sich, nach Humburg, erst spät ein erstes originales Walküre-Motiv in die Partitur flüchtet; Humburg nennt es nicht „Wälsungenleid“-, sondern „Liebesleid“-Motiv. Humburg analysiert von neuem Wagners psychologische Instrumentation, er weist den einzelnen Instrumenten Sphären zu, wie er die Rhythmen (Tod und Liebe spielen in der Walküre natürlich Hauptrollen) deutlich oder im Untergrund des Orchesterstroms herausfiltert. Er weist auf das Tonartenschema des „ersten Abends“ hin. der von der klassischen Schicksalstonart d-Moll des initialen Sturms zum leuchtenden E-Dur des Feuerzaubers verläuft. Humburg fragt genau, wieso an den meisten Stellen „richtige“ Tonarten und an anderen Stellen „falsche“ eingesetzt werden, um zum Schluss zu kommen, dass auch eine „falsche“ Tonart wie C-Dur die dazugehörige Handlung wissend kommentieren kann. Er bringt die Motive in Beziehung, indem er nach ihren psychologischen Beziehungen, auch den seltsamen Widersprüchen zwischen einem Wort- und dem Musiksinn fragt. Der Hörer und Leser, dem ja immer wieder, bisweilen eher unbewusst, die Ähnlichkeit dieser Stelle zu einer anderen Stelle auffällt, die 1000 oder gar 3000 Takte später erklingt – diesem Leser wird ein Cicerone in die Hand gegeben, der ihn davon überzeugt, dass bei Wagner nichts, kein Klang, kein Ton, kein Rhythmus, zufällig ist und immer Anteil an der Handlung hat, die er als Identität von Wort und Musik definierte.
Ergo: Dass Wagner einer der größten Konstrukteure der Musikgeschichte war, bei dem Struktur und Inspiration auf schier untrennbare Weise verbunden waren, wusste man ja. Es muss einem nur gelegentlich so tiefgründig und so genau erklärt werden. Der Ring ist, wie ein Ring eben so ist, bekanntlich eine unendliche Geschichte. Man könnte nur, der Autor sagt’s selbst, hier und da darüber zweifeln, ob wirklich jede der von Humburg mit äußerstem Scharfsinn – es ist der des dirigierenden Praktikers, nicht der des Schreibtischtäters – herauspräparierten Bedeutungen einzelner Takte, Akkorde und Motive einer objektiven Hermeneutik standhält. Der „Hysteriker“ (O-Ton Stephen Fry) Robert Gutman – horribile dictu! – hat vor 55 Jahren in seiner brillanten wie polemischen Wagner-Biographie behauptet, dass Wagner, je länger er am Ring komponierte, irgendwann selbst nicht mehr wusste, wieso er dieses oder jenes Motiv ins musikalische Spiel brachte. Konrad Kuhn, der Dramaturg von Valentin Schwarz’ Bayreuther Ring, sprach von einem Overkill der Leitmotive, der es irgendwann unmöglich mache, noch einen eindeutigen musikdramatischen Sinn an dieser oder jener Stelle zu entdecken. Es dürfte schwierig sein, jede der vielen Thesen im äußerst dicht gearbeiteten Text Will Humburgs zu beweisen, doch fordert er selbst den Leser zu Widerspruch auf.
Hat man sich die neue, ohren- und gehirnöffnende Studie durchgelesen, dürfte es allerdings schwer fallen, Humburgs Expertise etwas Sinnvolles entgegenzusetzen, oder anders: Die Fülle der Indizien spricht auch diesmal für einen Musikdramatiker, der sehr genau wusste, was er da schrieb. Auch das ist richtig: Je mehr wir über Wagner wissen, desto unklarer wird sein Bild. Dies aber scheint nicht für seine Musik zu gelten. Der populären Ansicht, dass Musik stets mehrdeutig wäre – es stimmt: je nach Inszenierung klingt auch Wagners Musik immer anders –, setzt Humburg mit dem Sachverstand des denkenden Dirigenten die Gegenthese entgegen, dass ausnahmslos jeder Takt des Ring, auch der Walküre, musikpsychologisches Gewicht hat. Es selbst dort erläutert zu bekommen, wo sich Wagner vielleicht etwas Anderes gedacht oder auch gar nichts gedacht hat, macht die Sache ja nicht dümmer oder trockener. Im Gegenteil und frei nach Goethe: Man weiß nur, was man hört.
Das Buch muss also allen wirklichen Wagner-Freunden empfohlen werden, die genau wissen wollen, wie „Wagner es machte“ – und vor allem: Wieso er es machte. Man wird auch Die Walküre, da bin ich sicher, danach anders – und besser hören.
Frank Piontek, 5. Dezember 2025
Will Humburg: Wagners Walküre. Eine Deutung von Leitmotivik und Orchestration
Königshausen & Neumann, 2025
235 Seiten