Bücherecke: „Heldenopern und Opernhelden um 1850“, Morten Grage

Gibt es das noch, Helden? Oder, gendermäßig gerecht formuliert, Heldinnen? Während es in der so genannten DDR noch „Helden der Arbeit“ gab und in der Corona-Zeit Krankenschwestern und sonstiges Hilfspersonal als Heldinnen der Krise symbolisch gefeiert wurden, duldet es keinen Zweifel, dass „Held“ und „Oper“ so etwas wie Synonyme sind. Zumindest dürften jedem Opernfreund sofort eine Menge Opern einfallen, in denen „Helden“ die Hauptrolle spielen: von Alessandro über Siegfried zu Calaf, um nur einige wenige prominente Figuren zwischen dem Barock und dem frühen 20. Jahrhundert zu nennen. Danach scheint der Heldenbegrff zusehends in die Defensive geraten zu sein – symptomatisch der Satz, den Brecht seinen Galilei auf die Bemerkung „Traurig das Land, das keine Helden hat“ äußern lässt: „Nein. Traurig das Land, das Helden nötig hat.“

Die „Heldenoper“ ist durchaus eine wenn auch notorisch brüchige Gattung. Dass es mit dem Heldsein seine Schwierigkeiten hat, beweisen gerade jene Werke, die bis heute, aus den verschiedensten Gründen, interessant geblieben sind. Morten Grage legte nun mit Heldenopern und Opernhelden um 1850 eine Monografie vor, die weit über die drei interpretierten Opern hinausgeht. Meyerbeers Le Prophète, Wagners Lohengrin und Verdis La battaglia di Legnano werden einer Autopsie unterworfen, nach der völlig klar ist, dass weder Jean de Leyde noch Lohengrin noch Arrigo „klassische“ Helden sind, deren Handeln keinen Zweifeln unterliegt, was nicht allein im Fall Lohengrin gilt. Ihre Karriere verdankt sich, abgesehen von der gelegentlich grandiosen Musik, der Tatsache, dass seit ca. 1800 ein neuer Helden-Typus die Opernbühnen eroberte; statt Kastraten sangen nun Tenöre, vorzugsweise des stimmkräftigen Typs Tenore di forza, die Hauptrollen, und da das Musiktheater stets auch (aber nicht nur!) ein Spiegel jeweiliger gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen ist, kann Grage mit den bewusst ausgewählten Werken so gut die Zeitgeschichte wie die sehr verschiedenen (Musik-)Dramaturgien der drei Komponisten beleuchten. Gemeinsam sei, schreibt Grage, den drei Opern die Erfahrung der Revolution; tatsächlich entstanden sie bzw. wurden sie uraufgeführt in unmittelbarer Nähe zu den Jahren 1848 und 1849. Grage klärt zunächst die Frage, was ein Held zwischen 1800 und 1850, also dem napoleonischen Zeitalter und den Revolutionsjahren mitbringen musste, um als „Held“ erkannt zu werden; was ein Held ist oder sein soll, versteht sich ja nicht von selbst, sondern wird stets subjektiv zugeschrieben (diese Beobachtung macht schon die Schwierigkeiten klar, die eine eindeutige Definition des Lohengrin zwar verhindert, doch die verschiedensten Möglichkeiten des so genannten Regietheaters nur eröffnet). Er erörtert also die Rezeptionsbedingungen der jeweiligen Werke, die Identifikationsmöglichkeiten, die ein Wiedertäufer, Gralsgesandter oder mittelalterlicher Ritter für den Zuschauer von 1850 boten. Er deutet ihren kulturellen, aber auch musikalischen Raum – Heldentenor ist nicht gleich Heldentenor –, er erläutert zeitgenössische Inszenierungsdetails im Spiegel der Publikums- und Pressereaktionen – und er widmet sich, nachdem er Soziologisches wie Libretto mäßiges ausführlich interpretiert hat, herausragenden musikalischen Episoden der Stücke, in denen heldenhafte Aura wie heldenhaftes Pathos zum strukturierten Klang werden. Dass ausnahmslos alle „Helden“ der drei Opern ihre orphischen Szenen haben, also in der Nachfolge des mythischen Sängers, damit auch des ersten Opernhelden der Operngeschichte stehen, ist eine auf den ersten Blick verblüffende, letzten Endes aber zutreffende Beobachtung: Große (Helden-)Sänger (Grage charakterisiert die ihre Zuhörer bezwingenden Sänger, die die Hauptrollen einst kreiert haben) vermögen immer noch ihr Publikum durch die Stimme zu bezaubern. Fast nebenbei kommen auch die Opernfrauen zu Wort, die in drei „Interventionen“ als durchaus nicht nebensächliche Protagonisten gewürdigt werden. Fidès und Berthe, Elsa und Ortrud, auch Lida geraten in den Blick der Gegenwart, um gegen ihre Schöpfer rehabilitiert zu werden.

Meyerbeers Prophète ist der Opernwelt vielleicht noch mehr abhandengekommen als Verdis Battaglia di Legnano, auch wenn letztere Oper nicht zu den meistgespielten des genialen Italieners zählt. Grage hat die unmittelbare Bedeutung der 1850 uraufgeführten Grand Opéra vor dem Hintergrund der französischen Tagespolitik und Restauration genau herausgearbeitet. Ohne den Begriff der Reaktion auch nur einmal zu verwenden, wird klar, dass es sich beim einstmals vielgespielten Opus von Scribe und Meyerbeer um ein ideologisch rückwärtsgewandtes Werk handelt, dessen „Held“ – der Wiedertäuferkönig Jan von Leyden – per se kein Held sein kann, sondern ein Scharlatan sein muss, mag er auch gelegentlich über ein Charisma (hier darf der Hinweis auf Max Webers Charisma-Theorie nicht fehlen) verfügen, das auf seine Einhänger einzuwirken vermag. Im Prophète verbanden sich auf vertrackte Weise die Welten der Kunst und des Kommerz, die, zusammen mit dem angestrebten Ziel der Verteidigung eines bürgerlichen Juste Milieu, nicht allein dafür sorgte, dass die Figurenzeichnung so schwammig ausfiel, dass es nur wenigen Interpreten leicht fiel und fällt, im „Titelhelden“ mehr zu sehen als einen diffusen Charakter. Grage schiebt das dramaturgische Problem, wohl zu Recht, auch auf die lange Entstehungszeit des Werks. Die zeitgenössischen Kritiker, die genauer hinschauten und hörten, haben die Schwäche der Meyerbeerschen Musik auf eben jene Zwiespältigkeit und dramaturgische Unentschiedenheit bezogen – 2004 schrieb ein mutiger Rezensent anlässlich der Münsteraner Aufführung, dass die Musik des Prophète, insbesondere die der ersten drei Akte, „über lange Strecken ganz einfach langweilig“ und „nichtssagend“ ist (nachzulesen im Meyerbeer-Magazin 14/2005). Theoretisch interessant aber bleibt der Einblick in Meyerbeers Musikdramaturgie dort, wo die so genannte Exorzismus-Szene – Jan überzeugt die Mutter mit „magnetischer“ Hypnosekraft davon, dass sie ihn nicht als ihren Sohn offenbart – genau analysiert wird; die Musik selbst hält allerdings kaum das, was die Spannung der Szene zu suggerieren scheint. Entscheidender ist der genaue Blick auf den „Propheten“, dessen Motive derart verschiedenen Interessen unterliegen, dass er eher ein Anti-Held als irgend ein Held ist. Seine „Agency“, wie Grage öfters schreibt („Transgression“ ist seine zweite Lieblingsvokabel), unterliegt also einer durchweg gestörten Entwicklung, die sich in den „leeren Klängen“ der „Exorzismus“-Szene deutlich äußert – und im Finale des dritten Akts mitsamt seinem Sonnenaufgang, das Richard Wagner in Oper und Drama mit einem vielzitierten Wort als „Wirkung ohne Ursache“ abkanzelte, kurzfristig vergessen gemacht wird. Gegen Grages Kritik an Wagners Meyerbeer-Kritik wäre nichts einzuwenden, hätte man nicht, ungeachtet von Wagners fehlerhafter Beschreibung der Situation, den Verdacht, dass es den Pariser Opernleuten nicht auch darauf angekommen wäre, mit möglichst modernen wie effektvollen Mitteln das Publikum hinzureißen, und das Wissen, dass Wagner, auch als sein eigener Textverfasser, schlicht und einfach der wesentlich stärkere, um nicht zu sagen: der geniale Musikdramatiker war, der selbst dort, wo er eindeutig „stahl“, das Beste draus machte. Ob es sich bei der Parallele des Rufs zu den Waffen für den Sturm auf Münster und dem gleichzeitigen Sonnenaufgang um eine manipulative Idee Jean de Leydes handelt, ist eine von Grage vorgeschlagene Interpretation der Szene, über die man lange nachdenken könnte. Aus ihr aber ergibt sich, so Grage, die Möglichkeit, den falschen „Propheten“ so zu deuten, wie man will: als Scharlatan oder enthusiastischen Religiösen. Am Ende gerät die Gegenrevolution der als heuchlerisch gezeichneten Volksverführer sowieso unter die Vernichtungsräder der Geschichte.

In diesem Sinn ist auch diese Oper weniger eine „Heldenoper“ als, so Grage, eine Abhandlung über die Frage, was denn ein „Held“ ist – oder eben nicht ist. Interessant ist auch der Verweis auf die Quellen, die von Voltaire zu einem Romanschreiber des 19. Jahrhunderts reichen und im Julien Sorel von Stendhals Le Rouge et Noir eine Parallele zu finden. Wertvoll sind insbesondere die musikalischen Interpretationen: die Chorpartien (hier wie in den anderen zwei Opern), der Einsatz der Harfe an besonders auratisch sein sollendes Stellen. En Detail könnte man, aber das ist gut so, über einige wenige Interpretation streiten.

Lohengrin ist das wesentlich bekanntere Werk, aber auch hier kann der Autor noch ein paar Türchen öffnen und den Helden so befragen, dass Wagners bzw. Lohengrins Strategie – und Elsas eigentümliche Rolle als heroische Akteurin und Heldenopfer – noch einmal sinnvoll unter die Lupe genommen wird. Grage fragt auch hier, wie das zeitgenössische Publikum auf die Figur reagierte, in welchem kulturpolitischem Zusammenhang die Oper zu verorten ist und welche Rolle der Titelheld in Wagners Künstlerbewusstsein spielte. Er untersucht seine Aura, die Auftrittsszene, die Musik des „Agenten des Wunderbaren“ und das „poetische Wunder“ zwischen Glauben, Wirklichkeit und Phantasmagorie. Das alles ist gut und historisch sorgfältig gearbeitet – nur in einem Punkt darf man dem Autor widersprechen: die Chorszenen seien, schreibt er, im Stil der Komponisten der Grand Opéra, also Spontinis, Meyerbeers und Aubers gearbeitet, würden aber nicht „deren Eigenständigkeit erreichen“. Dafür, so nicht nur meine Meinung, erreichen sie eine melodische Prägnanz, gepaart mit einer absoluten dramatischen Stimmigkeit, die sie, im Gegensatz zu den Opernchören Spontinis, Meyerbeers und Aubers, zu unverwechselbaren Ohrwürmern und gemacht hat.

Schließlich Verdi: La battaglia di Legnano ist ein unterschätztes Meisterwerk, das nicht nur den Verdi-Kenner Julian Budden einst so entzückte, dass er empfahl, es in den Kanon der Verdischen Meisterwerke aufzunehmen. Für Grage ist diese Oper der stärkste Beleg für die umstrittene Frage, ob Verdi ein Komponist des Risorgimento war oder nicht. Die Oper, für die der 1176 stattgefundene Kampf des Lombardenbundes gegen das Heer des deutschen Kaisers den Titel abgab, ist vermutlich die einzige Oper Giuseppe Verdis, die ohne jeden Zweifel als Risorgimento-Oper geplant und seinerzeit aufgefasst worden ist. Grage widmet sich, zurückgehend auf die Französische Revolution, dem historischen wie politischen (Opern-)Kontext, um mit überzeugenden Gründen die Bezüge zwischen Verdi, seinem Librettisten Salvatore Cammarano und dem Risorgimentisten (und Verfasser einer Filosofia di musica) Mazzini herauszuarbeiten, bevor er die Dramaturgie des Werks so genau untersucht, dass sich das Heldentum Arrigos fast von selbst erledigt, oder anders: Er hat mit Rolando, dem nunmehrigen Ehemann seiner einstigen Geliebten Lida (hier begegnet schon die Konstellation des späteren Ballo in maschera), einen zweiten, nicht minder eindrücklichen Helden an der Seite und darf erst im Finale wirklich „heldenhaft“ agieren. Neben den Helden steht wieder der Chor; die „Cavaliere della morte“ haben ihre dunklen, von Verdi raffiniert eingefärbten Auftritte. Wieder zeigt es sich, dass die Dramaturgie eines Werks dann unwichtig oder zumindest unwichtiger wird, wenn die Musik die eigentliche Stoßkraft besitzt. „Die Musik ist eine Politik“, wie es einmal der Philosoph Gilles Deleuze in Zusammenhang mit Verdi auf den Punkt brachte. Verdis Politik besteht darin, keine schematischen Helden zu bauen, sondern Charaktere, die zwischen einem Tenore di forza und einem lyrisch begabten Sänger changieren, und mit denen sich die Zuschauer so identifizieren konnten wie die weiblichen Besucher mit Lida – einer postheroischen, auf ihre Weise das Zeitalter verkörpernden Figur, wie Grage bemerkt. Woran man sieht, dass auch Verdi durchaus kreativ am Projekt „Heldenoper“ arbeitete, um, wie Wagner, mit Hilfe seiner Figuren den Durchbruch zu einer neuen Musikdramatik zu schaffen.

In diesem Sinne waren auch die beiden Komponisten Helden der Oper, während Meyerbeer, mit allen möglichen, vor Allem orchestral interessanten Mitteln auf einem modernistischen Konservatismus beharrte, der dem Prophète immerhin ein paar Jahrzehnte des internationalen Erfolgs garantierte. Grage hat die drei Werke – jedes von ihnen exzeptionell – genau interpretiert und in den Diskurs zwischen Politik, Gesellschaft, Musik und Opernkultur gestellt. Das war nicht „heldenhaft“ – aber gewiss sehr sinnvoll.

Frank Piontek, 3. Dezember 2025


Heldenopern und Opernhelden um 1850.
Meyerbeer – Wagner – Verdi
Morten Grage

Königshausen & Neumann, 2025417 Seiten, 8 Abbildungen, Notenbeispiele