Die frühe deutsche Oper, also die Opern, die zwischen ca. 1650 und 1700 komponiert wurden, ist inzwischen nicht mehr ganz so unbekannt wie noch vor 20 Jahren, seitdem etliche Aufnahmen und Aufführungen den Opernfreund beglückt haben, der sich für diese relativ exotische Sparte der Operngeschichte interessiert. War es Reinhard Keiser, der 1988 mit der Grossmütigen Tomyris von 1717 eine erste Gesamteinspielung geschenkt bekam? Schon schnell war klar, dass der zeitgenössische Ruhm des hervorragenden Kapellmeisters der Hamburgischen Oper am Gänsemarkt nicht übertrieben war. Die Berliner Aufführung des Croesus, die unter René Jacobs auch eingespielt worden ist, sorgte dann auch für ein weniger spezialisiertes Publikum dafür, den Namen Keisers über die Fachwelt hinaus bekannt zu machen. Inzwischen liegen, mit der hier anzuzeigenden Ersteinspielung, nicht weniger als sieben Opern Reinhard Keisers auf Silberscheiben vor: immerhin zehn Prozent eines ehemaligen Corpus von 70, zwischen 1694 bis 1734 komponierten Bühnenwerken. Da man sich in der Keiser-Gedenkstätte in seinem Geburtsort, dem sachsen-anhaltinischen Teuschern, nach Auskunft Dr. Googles 16 Opernpartituren bzw. Libretti anschauen kann, könnte es sein, dass da noch Einiges auf den Freund der frühen deutschen Oper zukommt.

Keiser gilt heute als der bedeutendste deutsche Opernkomponist der Opernfrühzeit, der noch zu Lebzeiten Mozarts als einer der größten Musiker des 18. Jahrhunderts bezeichnet wurde. Das macht: Humor, sehr Bewegtes wie Bewegendes, tiefe Melancholie, ausschweifende Lyrik, auf den Punkt gebrachte Charakterbilder, all das nicht begleitet, sondern deutlich akzentuiert von einem außerordentlich farbigen, rhythmisch spannungsreichen Orchester. Das ist keine „alte“ Musik, das ist der Vorklang Glucks und Mozarts, aber Keiser war kein „Vorläufer“. Mit ihm kam die frühe deutsche Operngeschichte zu einem Höhepunkt, obwohl auch in Hamburg eine eigenständige Operntradition scheiterte, die sich von der italienischen und französischen zu unterscheiden bemühte, was nicht heißt, dass nicht auch italienische und französische Arien in die deutschsprachigen Opern eingelegt wurden. Der Carneval von Venedig macht da keine Ausnahme, indem nicht weniger als 14 italienische Arien, zwei davon sinnigerweise auf einen Text, erklingen. Ebenso wenig überrascht der für frühe deutsche Opern leider übliche Umstand, dass zwar das gedruckte Textbuch und einzelne Arien, aber nicht die Ouvertüre, die Rezitative, Tanzsätze und Chöre überliefert worden sind. Mehrere Arien- und die Chorkompositionen mussten bei der Einspielung sieben anderen Opern und einer Kantate Reinhard Keisers, auch dem französischen Original André Campras, entnommen werden, so dass man es bei der neuen Fassung mit einem neubarocken Pasticcio zu tun hat. Nachdem 1991 die Handschrift aus Leningrad nach Hamburg zurückgekehrt war, brauchte es noch ein paar Jahre, bevor sich das Ensemblebarockwerkdes Stücks annahm – einer Oper, die in Hamburg ein wahrer Dauerbrenner war. In der Oper am Gänsemarkt standDer Carneval von Venedig 24 Jahre lang, bis 1731, auf dem Programm. „Kein anderes Werk wurde dort“, lesen wir im Werbezettel für die CD, „über eine so lange Periode, in der sich das Repertoire der Gänsemarkt-Oper und der Publikumsgeschmack wesentlich veränderten, gespielt“. Auch außerhalb von Hamburg war sie zu erleben. Die Frage aber bleibt: „Welchen Nerv hat der Komponist mit diesem Bühnenwerk beim Publikum getroffen?“ Die Antwort – sie ist mehrdeutig – lautet: „Man möchte fast sagen, dass ein Ohrwurm den nächsten jagt und durch die zum Teil sehr ungewöhnliche, ans Exotische grenzende Instrumentierung (…) ergeben sich herrlich farbige, heitere Momente, die lange in Erinnerung bleiben.“ Mag sein, dass das alles fast eine Rolle gespielt hat. Vermutlich war es, aber da muss man spekulieren, die Mischung aus Melodie, Musik, Szene – Venedig zog schon immer die Touristen, die Liebenden und die Glücksspieler an und provozierte diverse Traumwelten – und einer Handlung, die nur auf den ersten Blick wirr anmutet. Denn in Der angenehme Betrug oder: Der Carneval von Venedig, wie der Titel vollständig lautet, geschieht nichts Anderes als in jeder anderen guten Barock-Oper und vielen Barock-Romanen: Vorgestellt werden mehrere, sich in der Vergnügungsmetropole angenehm oder unangenehm betrügende Liebespaare bzw. Männlein und Weiblein, die auseinandergehen und wieder zusammengehen bzw. denn doch nicht zusammenkommen; Eifersucht, Liebeskummer, Stolz und Glück reichen sich die Hände, so dass die scheinbare Kompliziertheit der Handlung auch von Kindern durchschaut werden kann. „Einfach kompliziert“, wie es Thomas Bernhardt mal auf den Punkt brachte – und gegen Herzog Anton Ulrichs Römischer Octavia, die zwischen 1677 und 1707 in sechs dickleibigen Bände erschien und in der mehrere Dutzend Paare einander begegnen, ist Keisers Erfolgsstück denkbar simpel. In diesem Fall heißen die Amanten und Venedigbesucher Leonora und Leandro, Isabella und Rudolfo, Celinde und Myrtenio, Trintje und Brillo. Im Ridotto und auf der Piazza zanken und versöhnen sie sich, leiden vor sich hin, beschließen, sich zu ent- und zu verlieben – oder am Ende in fröhlicher Einsamkeit die angepriesene „Wollust“ zu genießen. Wer die Handlung, die ein Vorwand für die Ausstellung möglichst verschiedener Gefühlslagen zu sein scheint, nicht nacherzählen kann, muss sich nicht schämen: denn das emotional Wesentliche wird in den Arien, kaum den Rezitativen oder Sprechtexten mitgeteilt. Da diese Texte nicht als Kompositionen überliefert wurden, könnte man sie im Netz nachlesen, wo sich ein Librettodruck von 1711 leicht finden lässt. https://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN684535718 Für die halbszenische Aufführung in der Altonaer Oper hat man 2022 die Autorin und Dramaturgin Felicia Fee Brembeck engagiert, die den Figuren einen neuen Sprechtext in die Münder legte; einen Hauch dieser Sphäre verspürt man, wenn man sich den Trailer zur Produktion anschaut: https://www.youtube.com/watch?v=VA6lMfZPbFA
Natürlich ist, auch wenn das auf einem französischen Libretto Monsieur Regnards basierende und zuerst von André Campra komponierte Sing-Spiel Johann August Meisters und Mauritz Cunos (der die plattdeutschen Passagen verfasste) nicht den Standard der zeitgenössischen Opernbücher unterschreitet, die Musik die Hauptsache. Natürlich sind die Arien wieder in der absoluten Überzahl (32 Nummern plus Arie mit Menuett), dazwischen hören wir vier Duette, einige Instrumentalstücke und zwei Chöre. In der orchestralen Interpretation des dürren, aus der Gesangs- und einer Begleitstimme bestehenden Notentexts der Arienhandschrift, wie sie das barockwerk unter seiner Leiterin Ira Hochmann vornahm, wird der ganze Zauber der barocken Empfindsamkeit und Klangsprache entbunden. Dabei scheinen mir weniger die als besonders exotisch angepriesenen orientalischen Perkussionsinstrumente, die in den instrumentalen Gustostücken erklingen (den Entrées der Masken, auch der Bourrée der Zigeuner), als die besonders sensitiven Töne interessant zu sein, die zumal in den lyrischen Arien aufblühen. Da finden sich virtuose Arien für damalige Opernstars und ein Vorschein auf die musikalische Zukunft – es stimmt: Ach Liebe, bilde dir dieses nicht ein der Celinde hat schon etwas vom Buffogeist des 19. Jahrhunderts. Wo selbst die lyrische Geste bewegt ist, herrscht, ganz zum Charakter des Spielorts passend, nicht allein in Rudolfos Kommt zusammen, geplagte Sinnen das Tänzerische, besonders aber das italienisch Tänzerische vor. Und wo italienisch gesungen wird, haben wir es mit einer fast schon authentischen Venedig-Oper zu tun, deren dichte Handlung so gut zu den Winkeln und Kammern einer Stadt passt, in der das Spiel und die Gefahr, das so genannte Wahre und das so genannte Falsche, das Vergnügen und das grottesco, diese raue Spielart der Melancholie, so eng nebeneinander liegen. Am Ende aber herrscht auch in Venedig „nur“ die Natur, die die Figuren wieder zu sich und dem / den anderen kommen lässt. Die Musik legitimiert all diese Winkelzüge einer, wie gesagt, nur scheinbar vertrackten Dramaturgie. Im Grunde geht es immer um die Liebe und die Frage, wie man zusammen leben will, ohne unglücklich zu werden: vor und in der Szene eines nur halb fantastischen Venedig, in der sich mit Trintje und Brillo komischerweise auch einige plattdeutsche Figuren tummeln, um eine Oper in der Oper aufzuführen. Das Hamburger Publikum dürfte auch und gerade über diese, hier durch Georg Caspar Schürmanns Mummellied („O du gode leve Stadt / vor veel dusend Städten, / da ik mi kann dick un satt / in Swins-Braden freten…“) lustig angereicherte Einlage begeistert gewesen sein, die vielleicht, genau weiß man das nicht, von Keisers Kollegen Christoph Graupner komponiert wurde. Der Vor-Bericht zum Textbuch merkte – dumm für die heutigen Musikwissenschaftler -, dass „diejenigen Kenner rathen mögen, welche Music von dem Herrn Capell-Meister Keyser sey“. „Kenner“ des Graupnerschen Kantatenwerks (seine Opern wurden so gut wie nicht überliefert) mögen sich das Ihre denken.
Die Ersteinspielung lässt Keisers Ausdruckskunst alle Gerechtigkeit widerfahren. Sie ist instrumental einfallsreich, Solisten wie die empfindsame Oboe und das näselnde Fagott dürfen sich präsentieren, sie ist gestisch bewegt und in der Vielfalt der Charaktere vokal fast immer wohlklingend. Je öfter man sie hört, desto mehr hört man auch; zuletzt ist man nur noch erstaunt über den Reichtum der Mittel, über die der Komponist verfügte. Hanna Zumsande, Anna Herbst, Geneviève Tschumi, Mirko Ludwig, Andreas Heinemeyer und Matthias Vieweg füllen die Haupt- und Nebenrollen stimmschön und artikulatorisch genau aus, nur Fanie Antonelous Isabella hat Spitzentöne, die kultiviert werden müssten. Die Musik habe auch Schwächen, heißt es im Büchelchen zur Produktion? Schwächen? Von ihnen ist nichts zu hören. Dafür sorgt schon die Abfolge von Arien, Tanzsätzen und Chören, vor Allem aber die Virtuosität, mit der Keiser und seine modernen Interpreten die Vorstellung zu suggerieren vermögen, dass wir es mit italienischen Masken zu tun haben. Nicht allein der Chor der Castellaner, also der Leute aus dem sestiere Castello, Weichet ihr Sorgen und Schmerzen, atmet so etwas wie venezianischen Geist (Ira Hochmann bringt dieses populäre Tanzlied mit der Villota zusammen). Dass „eine verkleidete Princeßin aus Teutschland / unter dem Namen Celinde“ und „ein teutscher Prinz / unter dem Nahmen Myrtenio“ das Personal bereichern, um sich der reinsten schopernhauerschen Philosophie zu ergeben – „Frey von Lieben / frey von Leyden / Wir sind frey von allen beyden“ –, besagt nicht viel (oder doch nur, dass die Teutonen schon immer gern gen Süden fuhren).
Denn dieses Duett beendet nur im Libretto die Handlung, nicht in der Einspielung…
Frank Piontek, 9. Dezember 2025
Reinhard Keiser: Der angenehme Betrug oder: Der Carneval von Venedig
Oper in drei Akten
barockwerk Hamburg
Ira Hochmann
2 CDs CPO 555 581-2
2025