Eine neue Ära für das traditionsreiche Orchestre symphonique de Montréal (OSM) beginnt. Seit dieser Spielzeit ist der Venezolaner Rafael Payare der elfte Chefdirigent des traditionsreichen Orchesters. Damit folgt er den berühmten Kollegen Klemperer, Markevitch, Metha oder dem längsten bisherigen Chef Charles Dutoit.
Große Namen werfen also ihren Schatten voraus. Was ist nun von Rafael Payare zu erwarten? Payare begann u.a. als Hornist beim Simon Bolivar Orchestra. Claudio Abbado und Lorin Maazel erkannten seine dirigentische Begabung und förderten diese. In den letzten Jahren gastierte Payare bereits bei vielen großen Orchestern, z.B. beim Chicago und London Symphony Orchestra. Gustav Mahler steht Payare nahe und so war es naheliegend, sein CD-Debüt mit dem OSM diesem Komponisten zu widmen. Ein Zyklus ist angedacht.
Das einleitende Solo der Trompete erzeugt bereits große Aufmerksamkeit. Hier wird ein Ereignis angekündigt! Und tatsächlich, die folgenden Tutti Ausbrüchen des Orchesters sind furios und ruppig. Hier geht es um alles. Payare stürmt mit Dramatik in diesen ersten Satz und setzt sehr kräftige Akzente. Ruppig und hart ist zuweilen seine Gangart, was dem Duktus der Verzweiflung gut entspricht. Im zweiten Satz ist Payare noch wilder zu erleben. Die geforderte höchste Vehemenz wird mit großem spielerischem Risiko staunenswert gelungen realisiert. Das OSM geht mit Payare durch das orchestrale Feuer mit großem Klageton und wunderbarer Emphase.
Ein betont positiver Gegenpol wird mit dem Scherzo formuliert. Vorbildlich in der Transparenz und Klarheit der Stimmen beginnt es lichtvoll, um dann aber auch Eintrübungen zu erfahren. Doch das hingebungsvoll tönende Solo-Horn löst diese Düsternis für Momente auf. Payare kommt hier auch mit seinem Epressivo-Willen in ruhigere Fahrwasser, was diesen Mahler kontrastreich wirken lässt.
Das Adagietto ist wörtlich genommen und mit knapp neun Minuten fließend, ohne Schlepperei oder Larmoyanz zu hören. Hier haben die vortrefflichen Streicher des OSM ihre großen Augenblicke und verzaubern mit einem betörend lieblichen Klang.
Selten ist der fünfte Satz vom ersten Takt an als Apotheose des Lichtes zu erleben, wie in dieser Aufnahme. Ein intensiver Dialog in dem Orchester führt zwangsläufig zum finalen Höhepunkt, der den Zuhörer überwältigt, wie es sich Mahler vermutlich gedacht haben wird.
Das Orchestre symphonique de Montréal spielt auf höchstem Niveau. Es gibt keinerlei Schwächen. Neben der spieltechnischen Souveränität begeistert das eigene Timbre des Orchesters, das einerseits warm in der Grundierung ist, aber auch immens zupackend und schroff erklingen kann. Hier ist Gustav Mahler in ganz eigener Couleur zu erleben, was unbedingt Lust auf mehr macht.
Ebenso neugierig darf der Zuhörer sein, wie sich Rafaels Payares Weg mit Gustav Mahler weiter gestaltet. Payare hat eigene Ideen und riskiert dabei viel. Das ist gut so und vermittelt Mahlers Musik in einer Lesart mit deutlicher persönlicher Aussagekraft. Spannend.
Pentatone liefert eine vorzügliche Aufnahmetechnik, weiträumig, warm, detailreich und doch nah am Ohr des Zuhörers. Fabelhaft.
Dirk Schauß, 6. März 2023
Pentatone
5187067