In diesen Tagen ist bei dem Label Naxos ein Live-Mitschnitt von Tschaikowskys Oper The Enchantress (russischer Originaltitel: Tscharodejka, deutscher Titel: Die Zauberin) erschienen. Aufgenommen wurde eine Aufführung der Oper Frankfurt vom 30. Dezember 2022.
Bei diesem selten gespielten, auf einem Libretto von Ippolit W. Schpaschinski beruhenden und 1887 am Mariinski Theater, Sankt Petersburg aus der Taufe gehobenen Werk haben wir es mit einer ausgesprochenen Rarität zu tun, die vor Frankfurt a. M. nur Produktionen in Lyon, Erfurt und Wien erlebte. Tschaikowsky hielt dieses zwischen Eugen Onegin und Pique Dame entstandene Stück für seine beste Oper. Das ist durchaus nachzuvollziehen. Dieses Werk ist einfach phantastisch! Missverständlich mutet indes der deutsche Titel Die Zauberin an. Irgendwelche Hexerei, wie man danach vermuten könnte, spielt hier überhaupt keine Rolle. Der englische Titel The Enchantress bedeutet vielmehr Die Bezaubernde. Und bezaubernd ist sie, die junge, schöne Witwe Nastasya, die auch Kuma genannt wird, in hohem Maße. Insoweit trifft der englische Titel gänzlich ins Schwarze. Nastasya ist eine Wirtin, die in der Nähe von Nischni Nowgorod eine Wirtschaft betreibt. Hier treffen sich alle Menschen, die frei diskutieren und feiern wollen. Dieser Hof ist dem Geistlichen Mamirov ein Dorn im Auge. Kurzerhand fordert er den Fürsten Nikita auf, die schöne Wirtin wegen Zauberei und Unzucht festzunehmen. Der Fürst entspricht indes seinem Willen nicht, da er sich in Nastasya verliebt hat. Dabei ist er verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Die Fürstin Yevpraksiya kommt hinter die Beziehung ihres Mannes, was ihre Eifersucht erregt. Kurzerhand fordert sie ihren Sohn Yuri auf, die Rivalin ins Jenseits zu befördern. Aber Yuri führt den Tötungsbefehl seiner Mutter nicht aus, da er sich schlagartig in Nastasya verliebt. Da bleibt der Fürstin als einziges Mittel, die Widersacherin selbst mittels eines Gifttrankes zu töten. Als Fürst Nikita bemerkt, dass seine Geliebte ermordet wurde, tötet er seinerseits seine Frau und seinen Sohn. Entsetzt über diese Tat verfällt er dem Wahnsinn.
Es ist eine recht dramatische Geschichte, die sich hier vor den Augen des Zuschauers abspielt und die Regisseur Vasily Barkhatov zusammen mit Christian Schmidt (Bühnenbild) und Kirsten Dephoff (Kostüme) grandios auf die Bühne gebracht hat. Die Handlung, die ursprünglich im Russland des 15. Jahrhunderts angesiedelt ist, hat das Regieteam geschickt in unsere Zeit übertragen. Ein zentrales Anliegen Tschaikowskys, nämlich den Gegensatz zwischen dem russischen Staat und der russisch-orthodoxen Kirche aufzuzeigen, haben Barkhatov und seine Mitarbeiter nicht vernachlässigt. Dieser essentielle Punkt, der heute noch genauso viel Geltung beansprucht wie zur Zeit Tschaikowskys, wird von der Regie präzise aufgezeigt. Nachhaltig wird zudem das Aufeinanderprallen von Volk und staatlicher Macht herausgestellt. Im dritten Akt sehen sich Nastasyas Gäste Filmaufnahmen an, die den Aufstand des gegen zu hohe Steuern protestierenden Volkes gegen die Staatsgewalt zum Inhalt haben. Und Barkhatovs Kritik an der russisch-orthodoxen Kirche wird an der Figur des Mamirov, der hier mit der Figur des Kudma zusammengelegt wird, offenkundig. Mit seiner schlechtsitzenden Kutte und mit seinem langen Ziegenbart wirkt er wie eine ausgesprochene Karikatur.
Neben den bereits erwähnten Filmaufnahmen des Aufstands bedient sich der Regisseur auch sonst noch beim Medium Film. So, wenn er immer wieder schnell den Vorhang fallen und nach kurzer Zeit wieder aufgehen lässt. Das ist die Cut-Technik des Films, die hier eifrig bemüht wird. Auch mit Rückblenden arbeitet Barkhatov. Zu Beginn gibt er dem Publikum mit Hilfe von stillstehenden Bildern einen Einblick in das frühere Leben der Titelfigur: Man sieht, wie Nastasya einen älteren, offenbar dem Adel angehörenden Mann heiratet und von diesem schwanger wird. Sie erleidet eine Fehlgeburt, was die Ehe unglücklich macht. Schließlich stirbt der Ehemann, wohl anhand von Drogen. Das sind bereits ganz am Anfang recht eindringliche Bilder. Der Regieeinfall, Nastasya hier als Angehörige gerade der Bevölkerungsschicht zu zeigen, gegen die sie später rebellieren wird, ist trefflich. In dieser Inszenierung ist sie eine Künstlerin, genauer gesagt eine Malerin. Ihre ursprüngliche Wirtschaft wird von der Regie konsequent zu einer Kunstgalerie umgedeutet, in der sich das zum Aufstand bereite Volk sammelt. Diese stellt den linken Teil des Bühnenbildes dar. Hier erblickt man auch einen riesigen, künstlichen Wolf, der für Größe und Gefahr steht. Auch das ist eine gute Idee. Die Protagonistin ist eine echt große Frau, der von außen Gefahr droht.
Der rechte Teil der Bühne wird von dem Palais der Fürstenfamilie eingenommen. Zahlreiche Ikonen lassen den Schluss zu, dass man hier gemäß den christlichen Werten lebt. Das indes nicht mehr lange, denn das Leben der fürstlichen Sippe schlägt in brutale Gewalttätigkeit um. Zudem sieht man noch zahlreiche Pokale als Sport-Siegestrophäen, die dem von der Regie als Boxer gedeuteten Prinzen Yuri zuzuordnen sind. Die Fürstin Yevpraksiya treibt gerne Sport. Dazu erhält sie Anleitungen von Nenila, die hier keine Kammerzofe, sondern eine Fitnesstrainerin ist. Und der Fürst Nikita hängt sehr an dem echten Schäferhund der Familie. Immer wieder wechseln sich diese beiden Bühnenbilder mit Hilfe der bereits oben erwähnten Cut-Technik des Films ab. Im vierten Akt schließlich verschmelzen die beiden Räume in geradezu surrealistischer Weise miteinander. Das Interieur wechselt hin und her. Einrichtungsgegenstände, die man zuvor im Atelier von Nastasya sah, erblickt man nun im dem fürstlichen Palais und umgekehrt fürstliche Gegenstände bei Nastasya. Zum Handlungsort wird hier eine zwischen den beiden Räumen angesiedelte dritte Spielfläche zwischen kargen Theaterwänden. Die Liebe Yuris zu Nastasya sowie der Giftanschlag der Fürstin stellen lediglich einen Traum der Titelheldin dar. In der Realität wird sie, wie von der Fürstin vorgesehen, von dem Prinzen getötet. Weiter geht es wie im Libretto. Der Fürst tötet Frau und Sohn. Sein eigener Suizid ist allerdings zum Scheitern verurteilt, weil er keine Kugel mehr im Pistolenlauf hat. Dieser Ansatzpunkt des Regisseurs war sehr überzeugend und wurde mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch spannend umgesetzt.
Tschaikowsky hat eine sehr eindringliche Musik geschrieben. Ausgesprochen volksliedhafte Melodien wechseln sich mit äußerst markant anmutenden und auch kirchenhaften Klängen ab, sentimentalen Momenten korrespondieren recht energische Melodien. Insgesamt entsteht hier ein Klangteppich von großer Pracht und Eleganz, dem man sich nur schwer entziehen kann. Dieser wird von Dirigent Valentin Uryupin und dem blendend disponierten und hervorragend aufspielenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester spannungsgeladen und mit großer Intensität ausgelotet. Die musikalische Ausdeutung der gegensätzlichen Welten ist Uryupin ausgezeichnet gelungen. Der musikalische Fluss wird von ihm ständig in Gang gehalten. Dabei schenkt er aber auch Einzelheiten seine Aufmerksamkeit.
Von den Sängern ist an erster Stelle Asmik Grigorian zu nennen, die als Nastasya mit betörendem stimmlichem Schmelz, guter Gesangstechnik, strahlkräftiger und emotionaler Tongebung sowie sicheren Spitzentönen titelgerecht bezaubert. Darstellerisch ist die hübsch anzusehende, anmutige und mit einer vorbildlichen schauspielerischen Ader gesegnete Sopranistin ebenfalls sehr überzeugend. Ein in jeder Beziehung facettenreiches Portrait gelingt Iain MacNeil in der Rolle des Nikita. Darstellerisch zeichnet er ein eindringliches Bild des zuerst durchaus nicht unsympathischen Fürsten, der sich dann aber zu einem rohen Gewaltmenschen entwickelt. Stimmlich glänzt der junge Sänger mit einem bestens italienisch fokussierten, sonoren Bariton, den er differenziert und nuanciert einzusetzen weiß. Überaus gefällig präsentiert sich Claudia Mahnke. Sie singt intensiv und ausdrucksstark und gibt der Fürstin Yevpraksiya auch schauspielerisch enormes Gewicht. Voll und rund klingt der Prinz Yuri von Alexander Mikhailov. Einen profund und tiefgründig klingenden Bass bringt Frederic Jost in die Partie des Mamirov ein. Mit feinem, tiefsinnigem Mezzosopran gefällt Zanda Svedes Nenila. Mit kraftvollem Bass wertet Dietrich Volle die kleine Rolle des Foka auf. Nicht überzeugend gibt sein halsig und etwas abgesungen klingender Stimmfachkollege Magnus Baldvinsson den Kichiga. Sehr dünn und ebenfalls bar jeder soliden Körperstütze der Stimme intoniert Michael McCown den Paisy. Gutes und nicht so Gutes vernimmt man bei den übrigen kleinen Rollen. Eine ansprechende Leistung erbringt der von Tilman Michael einstudierte Chor der Oper Frankfurt.
Fazit: Ein herzliches Dankeschön an das Label Naxos für die Veröffentlichung dieser bemerkenswerten DVD, die zur weiteren Bekanntmachung der Zauberin bestens geeignet ist und deren Anschaffung sehr zu empfehlen ist. Der Kauf lohnt sich!
Ludwig Steinbach, 29. April 2024
Die Zauberin
Piotr Ilitsch Tschaikowsky
Oper Frankfurt
Naxos
Best.Nr.: 2.110768-692 DVDs