Es war am 28. September 1994, als John Dews Inszenierung der Oper Andrea Chénier von Umberto Giordano Premiere an der Deutschen Oper Berlin hatte. Bis heute hat die Inszenierung nichts von ihrer bildhaften Suggestivität, dramaturgischen Klarheit und szenischen Faszination eingebüßt. Es ist sehr erfreulich, dass die fast 30 Jahre alte Inszenierung wieder aufgenommen wurde und auch in der nächsten Spielzeit noch im Repertoire gehalten wird. Sie ist nach wie vor eine der besten Produktionen des Hauses.
Obwohl selten aufgeführt, gehört Umberto Giordanos „dramma di ambiente storico“ zu den eindrucksvollsten Werken aus dem Umkreis des sogenannten „Verismo“, einer Stilrichtung der italienischen Oper, die naturalistische Elemente nicht nur in der Wahl des Sujets, sondern auch in der musikalischen Durchführung in den Vordergrund stellte. Der Librettist Luigi Illica benutzte in dem ursprünglich für Alberto Franchetti geschriebenen Drama, „das in den Jahren 1789 und 1794 spielt, die 1819 erschienene Erstausgabe der Werke André Chéniers und biographische Aufsätze über den zunächst von der Revolution begeisterten Dichter, der sich dann aber über den Terror der Jakobiner öffentlich empörte und kurz vor dem Fall Robespierres als eines seiner letzten Opfer auf das Schafott kam. Ferner griff er auf die von den Brüdern Edmond und Jules Goncourt verfasste ‚Geschichte der französischen Gesellschaft während der Revolution‘ (1892) zurück. Wichtiger noch war für ihn der frei mit den geschichtlichen Vorgängen umspringende Roman ‚Andre Chenier‘ (I850) von François -Joseph Méry. Ihm entnahm er die Figur des Gérard. … Mérys Buch verdankte Illica auch den Einfall, Maddalena da Coigny freiwillig mit Chénier das Schafott besteigen zu lassen.“ (Ulrich Schreiber)
In seinem Libretto zu Umberto Giordanos Andrea Chénier legte Luigi Illica der Figur des Carlo Gérard – einst ein Lakai, nun ein Revolutionsheld – einen Satz in den Mund, der von dem 1793 hingerichteten Girondisten Vergniaud stammt: „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.“ In dem prominenten Zitat spiegelt sich der Handlungskern der 1896 an der Mailänder Scala uraufgeführten Oper wider: In einem kraftvollen historischen Bilderbogen – man könnte auch sagen: Panorama – führt sie vor Augen, wie sich die Französische Revolution im Zuge ihrer Radikalisierung auch gegen Menschen wandte, die ihre Ideale mitgetragen hatten. Zu ihnen gehört der Dichter André Chénier (1762 bis 1794), der in der Oper als Gast eines Adelsfestes im Jahr 1789 eingeführt wird. In dieser dekadenten, musikalisch durch Rokoko-Anspielungen heraufbeschworenen Atmosphäre wagt es Chénier, die sozialen Ungerechtigkeiten des Ancien Régime anzuprangern, womit er Empörung auslöst, die Tochter der Gastgeberin, Maddalena, und den rebellischen Diener Carlo Gérard aber beeindruckt. Nach einem Zeitsprung von fünf Jahren begegnen wir diesen drei Figuren unter völlig veränderten Vorzeichen wieder. In ihrer berühmten Arie „La mamma morta“ schildert Maddalena, wie ihr Familie und Besitz genommen wurden und nur der Glaube an die Liebe, für die ihr Chénier einst die Augen geöffnet hatte, sie am Leben hielt. Den Schutz, den sie bei Chénier sucht, kann dieser ihr freilich nicht bieten, denn als Kritiker von Robespierres Schreckensherrschaft ist auch er akut bedroht. Als Opfer der politischen Situation erscheint sogar Gérard: Nachdem er im letzten Augenblick davor zurückgescheut ist, seine jetzige Machtposition auszunützen, um sich die leidenschaftlich begehrte Maddalena gefügig zu machen, versucht er reuevoll, den inhaftierten Chénier vor der Guillotine zu retten – vergeblich.
Der Schlußeinfall der Dew-Inszenierung ist eindeutig: Er zeigt das langsam von oben herabfallende schräge Beil der Guillotine in einem Spalt des seitlich sich schließenden Vorhangs, hinter dem Maddalena und Chenier stehen, Hand in Hand.
Eine zutiefst bewegende, tragische Oper, deren Libretto (immerhin hat Illica auch das Libretto der „Tosca“ geschrieben) unzweifelhaft literarische Qualitäten hat. Der Text bei der freiwilligen, gemeinsamen Schafott-Besteigung Maddalenas und Cheniers straft den „Liebestod“ in Richard Wagners „Tristan“ Lügen.
Das Klima der Französischen Revolution in seinem Wechsel von Schrecken und Pathos wird bei Illica theaterwirksam (und begreifbar in der wohl einzig möglichen Sichtweise von innen, also von Einzelschicksalen) ausgearbeitet. Die Dreiecksgeschichte zwischen dem Dichter, Gérard und der jungen Maddalena wird vor diesem Hintergrund umso berührender. Die Revolution als eigentliche Triebkraft der Handlung verlebendigte Giordano in gewaltig aufbrausender wie subtiler Musik, der er durch die Einfügung von Revolutionsliedern den Anstrich historischer Authentizität verlieh. Andrea Chénier machte den jungen Komponisten zu einem der führenden Vertreter des musikalischen Verismo und auf einen Schlag berühmt, das Stück wurde an den bedeutendsten Bühnen Europas und Amerikas, mit den berühmtesten Sängern der Zeit nachgespeilt und blieb der nie wieder erreichte Welterfolg des Komponisten.
John Dew, einer der faszinierendsten wie mutigsten, unkonventionellsten Musiktheater-Regisseure des letzten halben Jahrhunderts, hat für das Stück gemeinsam mit dem Bühnenbildner Peter Sykora eine so simple wie einleuchtende szenische Metapher entwickelt: eine kippbare Spielfläche (der Salon der Contessa di Coigny) mit nichts als einem hochkant stehenden Spinett, einer Rokoko-Chaiselongue und einem vom Bühnenhimmel herabhängenden Montgolfierenleuchter bezeichnen den Ort und die Zeit der Handlung. Den Bühnenkasten ziert ein rundumlaufendes, helles Band mit den revolutionären Schlagworten „Liberté, Egalité, Fraternité.“ Es färbt sich blutrot, nachdem die ganze Gesellschaft durch Kippen der Spielfläche in Schieflage gerät und aus dem Unterbau das Proletariat herauskrabbelt, auf der Bühne die Aristokraten rupft und jagt. Eine gewaltige, martialische Marat-Büste steht inzwischen auf der Spielfläche. (Jean Paul Marat war für seinen scharfen Ton und seine kompromisslose Haltung gegenüber den neuen Führern und Institutionen der Revolution bekannt. Er wurde zu einem der meistgehassten Jakobiner und schließlich ermordet.)
Die Büste des toten Marat mit geschlossenen Augen in fahles, blaues Bühnenlicht getaucht, bezeichnet sinnfällig den historischen Schlusspunkt der Revolutionsoper. Die farbenstrotzenden, federgeschmückten Rokoko-Kostüme, die der Kostümbildner José Manuel Vazquez für den dekadenten, gepuderten, bezopften und überschminkten Adel der vorrevolutionären Zeitentworfen hat, sind schier rauschhaft überwältigend.
Überwältigend ist auch die sängerische Besetzung dieser Wiederaufnahme. Alle Partien wurden (ohne Ausnahme) glaubwürdig besetzt. Und mehr als das! Mit dem aus den USA stammenden Gregory Kunde, einem der weltweit gefragtesten wie elegantesten Sänger des italienischen und französischen Repertoires (und darüber hinaus) sang mit seinen 71 Jahren (!) geradezu bewundernswert die Titelpartie, immer noch kraft- und gefühlvoll, höhensicher, mit schöner Stimme, belkantisch stilsicher und mit großer Sing-Autorität.
Den Gérard sang der weißrussische, inzwischen weltweit Triumphe feiernde, mächtige Bariton Pavel Yankovsky makellos und mit großer Gesangskultur.
Die US-amerikanische Sopranistin Sondra Radvanovsky sang die Maddalena geradezu überwältigend. Sie ist die vielleicht gegenwärtig denkbar beste Interpretin dieser Partie, weil sie nicht nur über eine schöne, große, sehr differenziert eingesetzte und kultiviert geführte Stimme verfügt, sondern darüber hinaus das exemplarisch vorführt, was Magda Olivero, die Grand Dame des veristischen Belcanto einmal als „Canto espressivo“, also als das „Singen mit der Seele“ bezeichnete.
Berührend war auch Jennifer Larmore in der kleinen Partie der Madelon im dritten Akt.
Dem feinfühligen wie energisch zugreifenden Dirigenten Axel Kober ist einepräzise wie mitreißende Umsetzung der farbigen Partitur Giordanos zu verdanken.Das Orchester der Deutschen Oper Berlin war in Bestform. Auch der von Jeremy Bines einstudierte Chor der Deutschen Oper Berlin ließ nichts zu wünschen übrig. Man übertreibt nicht, wenn man die Aufführung als eine Sternstunde bezeichnet. Das Publikum spendete frenetischen Beifall.
Dieter David Scholz, 8. Juni 2025
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Andrea Chenier
Umberto Giordano
Deutsche Oper Berlin
Besuchte Vorstellung: 7. Juni 2025
Premiere: 28. September 1994
Inszenierung: John Dew
Musikalische Leitung: Axel Kober
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Nächste Vorstellungen: 8., 13. und 18. Dezember 2025