Lob des Repertoires
Weit gespannt war in den letzten Spielzeiten der Deutschen Oper Berlin der Bogen zwischen bedauernswertem Flop wie Die Meistersinger von Nürnberg und erfreulichem Triumph wie Fedora, aber das wahre Kapital, das in jeder Spielzeit beachtliche Zinsen abwirft, sind die Repertoireaufführungen, nicht selten von Inszenierungen, deren Premiere bereits Jahrzehnte zurückliegt. Da werden in jeder oder in vielen Spielzeiten Schätze wieder ans Licht gehoben wie die Tosca von 1969, ist Puccini generell gut vertreten mit einer ganz auf Schöner-Sterben setzenden Madama Butterfly, einer amüsanten Rondine, dem inzwischen um die Suor Angelica gebrachte Trittico, einer feingliedrigen Manon Lescaut, leidet allerdings unter einer Turandot, in der die beiden Supermarkttüten tragenden Altchen von ihren Kindern abgemurkst werden, und La Bohème feiert noch mindestens jede zweite Spielzeit, Hänsel und Gretel ablösend, in der wunderbaren Friedrich-Inszenierung auch zur Weihnachtszeit Triumphe. Der Wagner-Fan kann sich immerhin, nachdem Tannhäuser verschwand, noch in einen bilderbunten Parsifal flüchten, wenn ihm ein betrügerischer Lohengrin, ein Ring in Schiesserfeinripp und die Meistersinger in Badelatschen nicht zusagen. Schlimm sieht es teilweise bei Verdi aus, dessen Spiegelbild-Rigoletto, Asyllager-Otello, Gynäkologen-Macbeth, Hausfrauen-Aida, Ideologen-Forza der Werktreue Liebende tunlichst meiden sollte, während man sich mit dem angemessen düsteren Don Carlo, dem zum Nachdenken anregenden Nabucco, den zeit- und ortversetzten, aber nachvollziehbaren Vespri und ganz besonders der wundervollen Traviata trösten kann. Anders, aber ähnlich wundervoll war der Falstaff in Friedrichs Regie, der von einem überaus trüben, schnell wieder in der Versenkung verschwundenen abgelöst wurde. Auch Mozart litt mit seiner schnell entsorgten Così fan tutte und besser auch verschwinden sollenden Entführung, auf die Zauberflöte von Günter Krämer ist immer noch Verlass und Don Giovanni noch immer faszinierend. In den letzten Jahren vermehrt auf die Bühne der Deutschen Oper gehievt wurden Werke des italienischen Verismo und der Zwanziger bis frühen Dreißiger, ein großes Verdienst und zum großen Teil auch ein solcher Erfolg.
Bis in alle Ewigkeit aufführen, falls die Kulissen und wunderbar ironischen Kostüme (José Manuel Vasquez) nicht früher zerfallen, könnte man ohne Zweifel Giordanos Andrea Chénier in der Regie von John Dew. Ihr Reiz liegt in der Verbindung von Werktreue, die bei einem Stück mit historisch belegten Personen selbstverständlich sein sollte, mit höchst originellen Einfällen wie der Sichtbarmachung des Umsturzes der Gesellschaft, bei dem der Adel in die Tiefe rutscht, das Volk das Podest, auf dem er seine Feste feierte, erklettert. Auch die Kostüme sind in der Art, in der sie durch Übertreibung die untergehende Gesellschaft lächerlich machen, Interpretation, so wie der Riesenkopf des von Charlotte Corday ermordeten Marats in seinem unangenehmen Pathos einen eindrucksvollen Kontrast zur berührenden Schlichtheit im Auftritt der alten Madelon bildet. Immer wieder fasziniert die Idee, das Möbelstück durch alle Akte hindurch ziehen zu lassen; das für Gérard der Ort amouröser Vergnügungen der Adligen war, das im Verlauf des Abends von den Marktweibern besetzt wird, danach den Jakobiner seinen revolutionären Rausch ausschlafen lässt und auf dem schließlich das das Todesurteil gegen Chénier verhängende Revolutionstribunal Platz nimmt. Eine höchst überzeugende Idee, von Bühnenbildner Peter Sykora wenn nicht ausgedacht, so doch zumindest umgesetzt.
Die berührendsten Momente des Abends waren nicht die Erzählung Maddalenas von ihrem Leidensweg seit Beginn der Revolution und auch nicht Il bel di di maggio Chéniers, sondern der Auftritt der alten Madelon mit ihrem Enkel, an diesem Abend zudem noch ein besonders junger, die Doris Soffel mit leuchtender, intakter Stimme sang und herzzerreißend und doch voller Würde spielte. Die sorgsame Ensemblepflege dokumentierte sich auch in der Besetzung der männlichen Nebenrollen. Burkhard Ulrich war der charaktertenorstarke Incroyable, Padraic Rowan ließ als Roucher samtige Bassschwärze hören, Dean Murphy machte mit kraftvollem Bariton die Revolution sympathisch. Sehr engagiert nahm sich Roman Burdenko des Gérard an, das Timbre seines Baritons wirkt markig und farbig, die Phrasierung war großzügig, die Diktion erfreulich klar. Wundervolle Musik hat der Chénier zu singen, Martin Muehle bedachte Improvviso wie Bel di mit einem Einheitsforte nicht gerade edler Farbe, war so eintönig wie in der vokalen Gestaltung auch in der Darstellung des Dichters. So fiel verdientermaßen der Beifall für La mamma morta und Nemico della patria auch spontaner und anhaltender aus als der für seine sehr erkämpft wirkenden Arien. Facettenreich, großzügig phrasiert, vor allem aber frisch und jugendlich klang der Sopran von Maria Motolygina, der den Charakter der bedingungslos Liebenden perfekt hörbar machte. Rollendeckend besetzt waren auch die Partien der Contessa mit Stephanie Wake-Edwards und der Bersi mit Lucy Baker. Michele Gamba machte als Einspringer am Dirigentenpult seine Sache ordentlich und geleitete die Sänger sicher durch den Abend. Manchmal irritierend war die Beleuchtung, nicht immer liebevoll mit den Gesichtern der Sänger umgehend.
Ingrid Wanja, 13. Dezember 2025
Umberto Giordano
Andrea Chénier
50. Vorstellung am 13.Dezember nach der Premiere am 28. September 1994
Regie: John Dew
Musikalische Leitung: Michele Gamba
Orchester der Deutschen Oper
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