Kapitalismuskritik als Happening
Was haben Verdis Aida, Bachs Matthäuspassion und Brecht/Weills Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny gemeinsam? In allen drei Werke, bei denen sich Benedikt von Peter an der Deutschen Oper Berlin um die Regie kümmerte, sind Darstellende und Publikum miteinander „vermischt“, was bei Aida lächerlich und das Stück entstellend wirkte, bei der Matthäuspassion gut funktionierte und bei Mahagonny höchste Anforderungen an das Publikum stellte, denn es wird quasi dazu gezwungen, eine Stunde lang stehend und eine zweite mit einigem Erobererglück auf einer Matratze sitzend der Aufführung beizuwohnen, vielleicht sogar durch unverhoffte Kostümierung mitspielend einbezogen zu werden.

So etwas, eine Mitspieloper, gab es schon einmal 1979 mit Wilhelm Dieter Sieberts Untergang der Titanic, die vor dem Haus an der Bismarckstraße mit der gemeinsamen Einschiffung von Chor, Solisten und Publikum auf die Titanic, sprich Opernhaus, mit einem Ball im Parkettfoyer, zu dessen Eröffnungstanz Kapitän und Offiziere Damen aus dem Publikum, das auf einer Tribüne saß, aufforderten, mit den Duetten zwischen Astor und Gattin und Strauss und Gattin vor und beim Untergang des Schiffes, mit dem Irren durch die Kellergänge , wo hinter Gittern Passagiere der dritten Klasse vergeblich versuchten, einen Aufstieg zum Deck zu finden, und schließlich das Finale auf dem inzwischen dunkel gewordenen Hof, auf dem Mitglieder des Chores mit einem „…versunken, ertrunken…“ durch Wellen zu gleiten schienen. Das war alles so eindrucksvoll, dass noch jetzt nach Jahrzehnten meine Kinder manchmal fragen, warum nicht einmal wieder „Titanic“ auf dem Spielplan stehe.

Für Mahagonny empfängt die Deutsche Oper ihre Besucher mit dem allzu bekannten Slogan „Arm, aber sexy“, wobei Letzteres für die gemeinte Stadt nicht einmal mehr zutrifft. Im Inneren des Hauses herrscht Halbdunkel, dienstbare Geister in am ehesten noch dem Rokoko verwandten Kostümen (Geraldine Arnold) mit riesigen rosa oder hellblau gefärbten Perücken geleiten sie in das Parkettfoyer, versuchen ihnen Kostüme überzustreifen und passen auf, dass man nicht über eine der am Boden liegenden, wohl ihren Rausch ausschlafenden Personen stolpert. Sekt wird für 10 Euro, im Verlauf der „Vorstellung“ ermäßigt für 3 Euro, angeboten, und auf einer großen Leinwand kann man verfolgen, wie die Holzfäller aus Alaska, aus der U-Bahn-Station Deutsche Oper auftauchend, in das Haus einziehen. Nach ungefähr einer Stunde wird der große Saal geöffnet, aber, ach, alle Sitze sind verhüllt, was tatkräftige Besucher schnell zu ändern wissen, so dass diejenigen, die nicht die Hauptbühne voller Matratzen erklimmen, in deren hinterstem Teil das Orchester platziert ist, sich niederlassen können. Nun sieht man das Personal der Oper auf Leitern den Ersten Rang und die Logen ersteigen, durch das Parkett und über die Bühne toben, was entweder direkt oder auf seitlich angebrachten Leinwänden wahrzunehmen ist, allerdings um den Preis eines am Ende steifen Halses.
So nimmt das Drama seinen Lauf und erweckt im Zuschauer eher Bewunderung für die akrobatischen Leistungen der Mitwirkenden als Anteilnahme für das Schicksal der Ausgebeuteten und schließlich zu Tode Kommenden, womit das von Bertolt Brecht propagierte Ziel der Verfremdung irgendwie, wenn auch auf andere Weise, als von ihm erdacht, erreicht wird.

Bei den Großaufnahmen der Gesichter und der entfesselten Lautstärke entgeht dem Zuschauer natürlich nicht, dass mit Miniports gearbeitet wird, bei diesem Stück und diesen außermusikalischen Anforderungen nicht nur verzeihlich, sondern notwendig, obwohl gestandene Opernsänger zu Gebote stehen. Evelyn Herlitzius, dem Haus durch die Darstellung vieler hochdramatischer Partien verbunden, ist die skrupellose Begbick mit autoritätsheischendem Sopran, Annette Dasch ist hübsch anzusehen und vollzieht überzeugend die Entwicklung vom unbedarften liebenden Mädchen Jenny zur würdigen Einwohnerin Mahagonnys. Einen prachtvollen Tenor hat Nikolai Schukoff für den die Gesetze des Kapitalismus zu spät erkennenden Jim. Als seine Kumpane können Artur Garbas als Bill und Kieran Carrel als Jakob reüssieren, angsteinflößend wirken Thomas Cilluffo als Fatty und Robert Gleadow als Dreieinigkeitsmoses. Stefan Klingele kostet mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin Schmissigkeit und Verruchtheit der Musik aus. Insgesamt überwiegt das Interesse für das Wie der Gestaltung bei weitem das für das Was der kapitalismuskritischen Aussage, und darüber schien niemand böse zu sein. Sorgenfalten hatte höchsten der für die Finanzen des Hauses zuständige Mitarbeiter wegen des Verzichts auf zwei Drittel der sonst verkaufbaren Karten.

Ach ja, eines der Kinder, denen Der Untergang der Titanic so nahe gegangenen war, erlebte nun, längst erwachsen, auch Mahagonny und fand es „unterhaltsam“. Das ist doch auch etwas.
Ingrid Wanja, 21. Juli 2025
Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Bertolt Brecht/Kurt Weill
2. Vorstellung am 20. Juli 2925
nach der Premiere am 17. Juli 2025
Regie: Benedikt von Peter
Musikalische Leitung: Stefan Klingele
Orchester der Deutschen Oper Berlin