Corpus delicti Wimper
Gleich zwei Premieren, bei denen man sich nicht auf seine Erfahrungen wie die mit einer Carmen oder Traviata verlassen konnte, gab es am Donnerstag und Freitag in Berlin, an der Staatsoper eine deutsche Erstaufführung mit Bernard Foccroulles Cassandra, in der uraufführungsfreudigen Deutschen Oper sogar una prima assoluta mit Rebecca Saunders‘ Lash, welcher Titel erst einmal diverse Fragen aufwarf. Sucht man beim immer auskunftsbereiten Wikipedia Hilfe für die Erklärung des Titels, dann ist der Jugendsprache nach zu urteilen lash jemand, der sich gerade von einem Rausch erholt, aber noch immer „bekifft“ ist. Die Gynäkologie bietet als Erklärung von Lash an: Entfernung der Gebärmutter unter Belassung des Gebärmutterhalses im Körper, in der Kosmetikabteilung jeder Drogerie hingegen kann man Lash als einem Serum zur Beförderung des Wachstums von Wimpern begegnen. Die Entscheidung erleichtern kann dem Operngänger allerdings der Untertitel von Lash: Acts of Love, womit Gynäkologie und auch Kosmetik schon einmal auszuscheiden scheinen, man bekifft vielleicht noch einigermaßen hinbiegen könnte, es nach Aussagen der Schöpfer des Werks doch um „existenzielle Grunderfahrungen“ gehen soll.

Das englischsprachige Libretto stammt vom Videokünstler, Performer und Schriftsteller Ed Atkins, die Musik von der schon viele Jahre in Berlin lebenden Komponistin Rebecca Saunders, der die Deutsche Oper den Auftrag für ihre erste Oper erteilte. Auf die Bühne gebracht wird das Werk durch das irische Regiekollektiv Dead Centre (Bush Moukarzel und Benn Kidd), denen bereits Giorgio Battistellis Teorema di Pasolini in der Deutschen Oper zu verdanken war. Geht Saunders nach eigener Aussage beim Komponieren von den Stimmen aus, für die sie ihre Musik schafft, arbeitete sie eng mit den ausführenden Sängerinnen zusammen und berief sich dabei auf Komponisten wie Rossini (viele andere wären da auch zu nennen), so schaffen die Regisseure „abstrakte Wahrnehmungs- und Erfahrungsräume“, und die umfassen auch Detailverliebtes wie Hautschuppen und Wimpern, und auch eine Letztere, die sich ausgerechnet in der Vorhaut des Geliebten verborgen hat, mit dem das gesamte Stück hindurch ein Dialog gesucht wird. Das gab es wohl auch schon in des Librettisten „Us Dead Talk Love“. Immerhin kann dem Opernbesucher jetzt ein Licht aufgehen: Es könnte um Wimpern als Barriere vor den Augen als „Tür zur Seele“ gehen. Gebärmutter und Cannabis sind damit ausgeschieden.

Es beginnt mit einer Nahtoderfahrung oder vielleicht auch mit einem Sterbeprozess, während derer/dessen Erinnerungen, eine Art Rückblende, wachwerden, Fragen gestellt werden, die offensichtlich bisher nie beantwortet wurden, wobei von vier Frauen, verkörpert von einer Schauspielerin und drei Sängerinnen, die Facetten einer einzigen Frau ausgeleuchtet werden, musikalisch jeder aus dem Quartett ein Motiv zugeteilt ist, so wie bestimmte Instrumentengruppen, z.B. der Schauspielerin vier Basstrommeln, oder bestimmte Tonabfolgen, so dem Sopran von Anna Prohaska Verzierungen, die sie häufig singt, wie in der Barockmusik zuzuordnen, oder der Altistin Noa Frenkel eine Art Jodeltechnik. Neben dem großen Orchesterapparat der Deutschen Oper werden auch elektrische Gitarre und analoge Synthesizer eingesetzt. Nicht nur aus dem Orchestergraben, sondern auch aus den Logen und den Seitenwänden tönt es, und die Trommeln produzieren sich höchst eindrucksvoll auf der Bühne. Das vorherrschende Klangerlebnis ist das des Überwältigtwerdens, aber eines reinen Hörerlebnisses, die Musik berührt nicht und bleibt nicht im Gedächtnis. Die Fülle der optischen Eindrücke könnte ein Grund dafür sein, denn es gibt kaum einmal die Beschränkung auf einen Raum, eine Situation, eine Handlung. Es wechseln Größtaufnahmen einzelner Körperteile, sehr oft des geschlossenen, mit reichem Wimpernkranz geschmückten oder des geöffnetem Auges, eines geschminkten Mundes. Irgendwann wird ein Auge ausgestochen, ein lebendiger Körper wird zur Leiche und eingesackt, Bett und Wanne, Bahre oder Bistrosesselchen dienen als Halt für die Körper, und man kann einfach nicht über mehr als zwei Stunden hinweg ein echtes Interesse dafür aufbringen, was der Geliebte, der entweder bereits tot oder untreu geworden ist, sich für Gedanken über die Wimper an verstohlenem Ort gemacht hat. Der viergeteilten Frau allerdings wäre das zu wissen so wichtig, dass Vermutungen zu Anfang, in Abwandlungen das gesamte Werk hindurch und zum Schluss noch einmal ausgesprochen werden.

Die Ausstattung von Nina Wetzel steht in einem starken Kontrast zur mageren Handlung, hat allerdings das Manko, dass man die vielen Teile der „Handlung“ mit einem kräftigem Besucher in der Reihe vor sich nicht wahrnehmen kann, denn sie spielen in einem klitzekleinen Würfel hinter dem Souffleurkasten. Zwar sieht man dasselbe, oft aber auch Abgewandeltes auch noch ganz groß auf der Leinwand, dazu liefert die Live-Kamera Bilder, so dass ein wildes Miteinander, Durcheinander, Gegeneinander entsteht und sich zunehmend der Gedanke breit macht, man habe keinem der Regieeinfälle so richtig vertraut, habe sich gezwungen gesehen, auch noch zusätzlich silbrig glänzende und andere Vorhänge, vom Himmel fallende Insekten oder Baumsamen, den Zuschauer blendende Blitze und vieles andere mehr aufgeboten. Das klingt schon im Libretto höchst verdächtig nach Ratlosigkeit, wenn man als Regieanweisung liest: „Bastardheilige kämpfen darum, geboren zu werden. Kameras verfolgen die Stöße. Eine um sich schlagende, groteske Litanei, geboren aus der Verzweiflung. Das Heilige durch erbärmliches Leben entweiht.“ Und das unmittelbar nach einem deftigen: „Nach einem ganzen Leben voller Wintermatsch lagen wir beieinander, es war uns egal, wer uns sah.“ Da ist es kein Wunder, dass nach einer guten Stunde die Zahl der Schläfer im Umkreis deutlich zunahm.

Dabei hat die Deutsche Oper durchaus einmal mehr bewiesen, wie großartig ihr Orchester, auch an diesem Abend unter der engagierten Leitung von Enno Poppe, sein kann, wie zuverlässig die Bühnentechnik auch schwierigste Aufgaben bewältigt, wie großartig das Haus in allen Bereichen funktioniert.
Natürlich müssen auch die hingebungsvoll ihre Aufgaben meisternden Solistinnen erwähnt werden. Es war eine der wesentlichen Qualitäten des Abends, dass Anna Prohaska die Rolle A verkörperte, Sarah Maria Sun S war, Noa Frenkel N gerufen wurde und Katja Kolm sich K nennen durfte. Der Sopran stieg in stratosphärische Höhen, der Alt verbreitete akustische Wärme und Verlässlichkeit, ein großes Maß an vokaler Zuverlässigkeit zeichnete den Sopran von Sarah Maria Sun aus, und Schauspielerin Katja Kolm machte durch ihre klare Diktion ihre Übertitel überflüssig.
Und wie wurde die Aufführung aufgenommen? Der erste Ton aus dem Publikum nach dem Erklingen des letzten auf der Bühne war ein lautes Buh, gefolgt von Bravos, insgesamt war der Applaus kurz, aber doch überwiegend zustimmend, das Publikum ein sicht- und hörbar anderes, jüngeres und temperamentvolleres als gewohnt.
Ingrid Wanja, 20. Juni 2025
Rebecca Saunders:
Lash – Acts of Love-Love, Mute, Loss
Deutsche Oper Berlin
Uraufführung am 20. Juni 2025
Regie: Dead Centre
Musikalische Leitung: Enno Poppe
Orchester der Deutschen Oper Berlin