Düsseldorf: „Anatevka“, Jerry Bock

© Sandra Then

Anatevka ist ein Musical von Jerry Bock, zu dem Joseph Stein das Buch und Sheldon Harnick die Liedtexte schrieb. Bock und Harnick hatten bereits bei She Loves Me erfolgreich zusammengearbeitet, feierten aber mit Anatevka ihren größten Karriereerfolg. Nach der Uraufführung am 22. September 1964 am New Yorker Broadway gewann das Musical 1965 insgesamt neun Tony Awards, darunter unter anderem in den Kategorien Bestes Musical, Beste Originalmusik, Bestes Buch und Beste Produktion. 1972 erhielt dieselbe Produktion einen weiteren Tony Award für die bis dahin längste Laufzeit in der Geschichte des Broadway. Das Musical spielt in dem fiktiven russischen Dorf Anatevka im Jahr 1905, in dem der Milchmann Tevje mit seiner Frau Golde und seinen fünf Töchtern inmitten einer großen jüdischen Gemeinde lebt. Tevje und weite Teile der Gemeinde sind sehr traditionsbewusst. So ist es mehr oder weniger ausgemacht, dass die Heiratsvermittlerin Jente allen Töchtern einen passenden Ehemann vermittelt. Doch die Zeiten ändern sich, und die drei ältesten Töchter, alle im heiratsfähigen Alter, wollen sich ihren Mann lieber selbst aussuchen. Tevje gerät dadurch in allerlei Gewissenskonflikte zwischen der ehrenwerten Tradition, der Liebe zu seinen Töchtern und dem Wandel der Zeit, vor dem auch er sich nicht mehr verschließen kann. Diese Konflikte trägt er immer wieder in charmanten Zwiegesprächen mit Gott aus, den er bei dieser Gelegenheit auch gleich fragt, was denn so schlimm daran wäre, wenn auch er endlich einmal reich wäre. Doch neben dem im weitesten Sinne durchaus harmonischen Dorfleben erreichen die Bewohner von Anatevka auch beunruhigende Nachrichten über Pogrome in anderen Teilen des russischen Zarenreiches. Und auch Anatevka bleibt nicht verschont.

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Die Pogrome und restriktiven Erlasse unter den Zaren Alexander III. und Nikolaus II. führten allein zwischen 1881 und 1914 zu Massenauswanderungen, in deren Verlauf rund zwei Millionen Juden Russland verließen. Unter ihnen war auch Schalom Jakow Rabinowitsch, der nach Pogromen in seiner Heimatstadt Odessa 1905 zunächst in die Schweiz und 1914 weiter in die USA emigrierte. Dort schrieb er unter dem Pseudonym Scholem Alejchem (Friede sei mit euch) Geschichten über den Alltag der einfachen Bevölkerung in kleinen jüdischen Dörfern, die sich stets durch die Menschlichkeit der Figuren auszeichnen. Am bekanntesten ist Tevje, der Milchmann, auf dessen Geschichten das Musical basiert. Da die Dorfbevölkerung ein wichtiger Teil der Geschichte ist, finden sich auf dem Besetzungszettel auch insgesamt 27 Rollen, die von acht Tänzern, dem Chor der Deutschen Oper am Rhein und der Statisterie ergänzt werden. Allen voran sei hier Andreas Bittl als Tevje genannt, der diese Rolle mehr als nur ausfüllt. Wie charmant und liebenswert er den Charakter über die gesamte Spieldauer von immerhin rund 3 1/4 Stunden (inklusive einer Pause nach knapp zwei Stunden) verkörpert und dabei sowohl die humorvollen als auch die tragischen Momente meistert, ist aller Ehren wert. Eine gelungene Kombination bilden Susan Maclean (als Golde) und Morenike Fadayomi (als Jente), deren Gespräche sehr unterhaltsam gestaltet sind. Auch die Liebespaare Anna Sophia Theil und Roman Hoza als Zeitel und der Schneider Mottel Kamzoil, Kimberley Boettger-Soller und Florian Simson als Hodel und der Kiewer Student Perchick sowie Mara Guseynova und Valentin Ruckebier als Chava und der Russe Fedja überzeugen.

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Da dieses Musical ursprünglich für gesanglich talentierte Schauspieler konzipiert wurde und dementsprechend viele Textpassagen enthält, war im Vorfeld die Spannung groß, inwieweit all diese Rollen qualitativ hochwertig aus dem eigenen Opernensemble besetzt werden können. Es bleibt festzuhalten, dass diesbezügliche Sorgen völlig überflüssig waren. Sowohl die gesprochenen als auch die gesungenen Texte, übrigens in der deutschen Übersetzung von Rolf Merz und Gerhard Hagen, waren gut verständlich, so dass die Übertitelung ein netter Bonus war, der aber nur selten in Anspruch genommen werden musste. Besondere Erwähnung verdienen an dieser Stelle noch Günes Gürle für seine wunderbare Darstellung des Metzgermeisters Lazar Wolf und Johannes Preißinger für seine Interpretation des liebenswerten Rabbiners.

Insgesamt kann die Inszenierung von Felix Seiler, der mit dieser Produktion sein Regiedebüt an der Deutschen Oper am Rhein gibt, auf ganzer Linie überzeugen. Mit guter Personenführung und einer Prise Humor kommen alle Dorfbewohner gut zur Geltung. Auch die drohende Gefahr des zunehmenden Antisemitismus wird unterschwellig nie aus den Augen verloren und an verschiedenen Stellen des Stückes gekonnt umgesetzt. Zusammen mit seinem Bühnenbildner Nikolaus Webern setzt er das Dorf Anatevka aus verschiedenen Wäschestücken zusammen, denn das Dorf sind in seiner Interpretation nicht die Häuser, sondern die Menschen, die darin leben. So bauen diese Menschen gleich zu Beginn des Abends ihr „Dorf“ aus verschieden großen Tüchern an mehreren Wäscheleinen auf. Ganz am Ende, wenn sich auch die Bewohner Anatevkas auf den Weg in verschiedene Zufluchtsorte in aller Welt machen, verschwindet Stück für Stück wieder ein Teil dieses Dorfes, bis schließlich Anatevka nicht mehr existiert, nachdem auch das letzte Tuch abgenommen wurde. Sarah Rolke greift in ihren Kostümen auf die traditionelle Kleidung der jüdischen Dorfbevölkerung zurück. In der Kleidung der russischen Bevölkerung mit ihren verschiedenen Brauntönen und glänzenden Mänteln sind durchaus Anspielungen auf die Kleidung der Nationalsozialisten in Deutschland zu erkennen. Musikalisch führt Harry Ogg die Düsseldorfer Symphoniker gewohnt souverän durch den Abend. Erwähnenswert ist noch Victoria Moreno Zaldúa, die als Fiddler immer wieder ihre Geige von der Bühne erklingen lässt. Ein Gemälde von Marc Chagall aus den Jahren 1912/13, das eine surreal-träumerische Szene zeigt, in deren Mittelpunkt der Geiger auf dem Dach steht, diente Jerry Bock, Joseph Stein und Sheldon Harnick seinerzeit als Inspiration für ihr Musical, welches daher im Original auch den Titel The Fiddler on the Roof trägt.

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Am Ende des Abends spendete das Premierenpublikum im fast ausverkauften und bis in den 3. Rang sehr gut gefüllten Opernhaus den Darstellern und dem Leitungsteam einen fast orkanartigen Applaus. Ein wunderbarer Beweis für die Qualität der Produktion und hoffentlich auch ein Zeichen an die Intendanz des Hauses, das Genre Musical in Zukunft gerne regelmäßiger in den Spielplan aufzunehmen. Es gibt noch so viele großartige, auch klassische Musical-Raritäten wieder zu entdecken. Und das Interesse des Publikums scheint durchaus vorhanden zu sein, wie andere Theater im Land eindrucksvoll beweisen.

Markus Lamers, 19. Mai 2024


Anatevka (Der Fiedler auf dem Dach)
Musical von Jerry Bock, Joseph Stein und Sheldon Harnick

Oper am Rhein, Opernhaus Düsseldorf

Premiere: 18. Mai 2024

Inszenierung: Felix Seiler
Musikalische Leitung: Harry Ogg
Düsseldorfer Symphoniker

Trailer

Weitere Aufführungen: 26. Mai / 29. Mai / 31. Mai / 2. Juni / 8. Juni / 15. Juni (ausverkauft) / 18. Juni / 22. Juni / 30. Juni / 2. Juli und ab Oktober 2024 im Theater Duisburg