Premiere am 26.9.15
Wenn die Glocken schweigen…
Martinus „Griechische Passion“ in festspielreifer Aufführung am Aalto – Ein 5-Sterne-Abend!
Produktionsbilder: Aalto, Thilo Beu
Im Rahmen der Flüchtlingswelle setzt über Deutschland eine Flut von Griechischen Passionen ein. Obwohl man den grandiosen großen Komponisten Bohuslav Martinu (geb.8. Dezember 1890 in Polička, Ostböhmen, Österreich-Ungarn; † 28. August 1959 in Liestal, Schweiz) im Lande BRD bisher auf höchst ignorante Weise nur mit marginaler Wertschätzung bedacht hat, ist es nun – so scheint es – Zeit für eine Wiederbelebung; times are gonna change, hat er doch eine "Flüchtlingsoper" geschrieben. Nun ist er auf fast allen Bühnen plötzlich willkommen.
Martinus Schaffen umfasst neben vielen Orchesterstücken, richtigen Sinfonien, Balletten und Vokalwerken auch 16 Opern. Seine musikalischer Stil, vor allem im Opernbereich, liegt in einer erweiterten Tonalität, die zwischen postwagnerischen Einfluss auch Elemente der tschechischen Volksmusik aufweist, und ist schwer definier-, aber gut rezipierbar. Insbesondere die "Griechische Passion" weist auch viele kirchenmusikalische Grundzüge auf und ist im besten Sinne eine Choroper. Seine Dur-Moll-Tonalität brachte Martinu viel Kritik vor allem von Seiten der radikalen Neutöner ein, die ein so altertümliches Kompositionsschema bei einer Oper aus dem Jahre 1957 für weniger angebracht hielten. Martinu revidierte sein Werk nach anfänglicher Ablehnung der UA an der Königlichen Oper Stockholm zu Gunsten sanfterer geglätteterer Formen. In dieser überarbeiteten Fassung wurde das Meisterwerk schließlich 1961 in Zürich uraufgeführt. Die Erstfassung von 1957, ursprünglich für die Royal Opera London komponiert, wurde 1999 für die Bregenzer Festspiele wiederhergestellt. Warum man nun in Essen ausgerechnet wieder die "aufgeweichte" 2.Fassung spielt, bleibt mir ein Rätsel. Musikdramatisch völlig unverständlich – gleichzusetzen als spiele man heuer noch statt Schostakowitsch rüder genialer Urfassung der "Lady Macbeth von Mzensk" seine abgemilderte "Katarina Ismailowa".
Dankenswerter Weise – und das macht ihn zu einem ganz großen Musiktheater-Regisseur – hat der hochintelligente und rührige tschechische Inszenator Jiri Hermann mit seinem Team die aktuelle Flüchtlingskrise nicht plump plakativ in den Vordergrund seiner Essener Produktion gestellt. Es gehe ihm vielmehr um die besondere musikalische Welt des Komponisten. Und dieses Kernanliegen, soviel sei vorweggenommen, hat er brillant und so musiktheater-exemplarisch umgesetzt, als wäre das Riesenwerk einzig und allein für das große Aalto-Opernhaus geschrieben worden. Da kommt auch die bemerkenswerte Bregenzer Festspielproduktion von 1999 nicht annähernd heran. Gestern stimmte alles und war alles stimmig: Inszenierung, Bühne, Kostüme, Orchester und die grandiosen Chöre. Was für ein starker Opern-Abend!
Die Geschichte nach dem berühmten Roman "Der wiedergekreuzigte Christus" (Nikos Kanzantzakis, 1948) ist nicht nur eindrucksvoll, sondern auch langzeitlich aktuell. Im Kern stehen die Bewohner eines griechischen Wohlstands-Dorfes, vor deren Mauern ihre Nachbarn erscheinen, die, von Feinden kriegerisch entwurzelt und ausgeplündert, nun zu Vertriebenen wurden. Sie suchen eine neue Heimat und bitten um Unterstützung und Hilfe. In ihrer scheinheiligen Frömmigkeit, angeführt vom obersten Dorfpopen – man ist gerade dabei, die jährlichen Passionsspiele vorzubereiten – wird jede Hilfe abgelehnt. Der zum Jesusdarsteller auserkorene Manolios wird schließlich, als er allzu sehr ans Mitleid seiner Dorfgenossen appelliert, vom Judasdarsteller Panait erschlagen. Der Dorfpriester ist zufrieden, während die Flüchtlinge aufgezehrt und halb verhungert weiterziehen müssen.
In der Essener Inszenierung gestaltet der Dorfmopp diese Selbstjustiz unter Leitung des Popen, die Flüchtigen sterben vor den abgeschotteten Mauern der Dorfgemeinschaft an Hunger. Am Ende wird die große Staats-Glocke wieder wuchtig geläutet, aber sie gibt keinen Ton mehr von sich. In einem choralartig aushauchenden Pianissimo endet die Oper mit diesem ungeheuer beeindruckenden Schlussbild. Es gibt dankenswerter Weise nach dem Fallen des Schlussvorhangs erst einmal andächtige Schweigesekunden – das verständige und großartige Essener Premierenpublikum zeigt sich berührt und klatscht nicht gleich los. Ebenso endlich mal keine sozialistisch rhythmischen Klatschparaden, wie sie ja sonst heute leider allgegenwärtig geworden sind.
In Jiri Hermans meisterhafter Inszenierung gerät selbst ein großes Haus wie Essen mit fast 130 auf der Bühne Beteiligten Künstlern an seine Grenzen. Das riesige schon fast cinemascope-artig zu nennende Bühnenbild und die Klangdimensionen der verschiedenen Chöre kann man eigentlich richtig erst in den hinteren Reihen des Opernhauses wertschätzen. Für die Bühnenvielfalt werden von Dragan Stojcevski auch alle drei Hinterbühnen belegt und schrittweise hereingefahren, teilweise mit richtigem Wasser; was für ein gigantischer technischer Aufwand. Die verschiedenen Bühnenimpressionen sind filmreif; der Umgang des Regisseurs mit Chor, Extrachor, Kinderchor und Statisterie ist überwältigend. Hier wird ganz große Oper glaubwürdig und exemplarisch umgesetzt. Endlich versauert ein Werk nicht in den Zwangsklammern des Einheitsbühnenbildes. Diese Bühne lebt, die Requisiten sind bedrohlich, die Mauern beängstigend realistisch, trotz aller Beweglichkeit. Fabelhaft!
Das Stück ist vom Regisseur auch wie aus den Augen eines Musikdramaturgen bewegt und geradezu überwältigend bewegend inszeniert. Die ausgefeilt Lichtregie (Manfred Kirst) ist vom Feinsten und die Kostüme (Alexandra Gruskova) überzeugen nachhaltig.
Opern-Chor (Patrick Jaskolka) und Kinderchor (Alexander Eberle) harmonieren und intonieren prachtvoll und kultiviert. Tomas Netopil reüssiert mit den Essener Philharmonikern in Höchstform geradezu tonstudioreif. ***
Solisten hier einzeln zu loben und aus dem fabelhaften Ensemble herauszubrechen (man weiß ja teilweise gar nicht, wen man mehr loben möchte) wäre angesichts dieser monumentalen Teamproduktion unangemessen. Ich hatte den Eindruck, daß wirklich jeder mehr als sein Bestes gab, ob Hauptrollen oder Comprimarii. Hier steht für den Kritiker ausnahmsweise einmal das große gelungene Ganze über den Indivídualleistungen.
Was für ein großer Abend – wir verleihen zusätzlich den OPERNFREUND STERN für ein mehr als beeindruckendes grandioses, tief unter die Haut gehendes Musiktheater-Ereignis. Ein Meilenstein in der schütteren Rezeptionsgeschichte dieser Welt-Oper. Besser kann man dieses Werk heute kaum inszenieren…
Peter Bilsing 27.9.15
Dank für die tollen Bilder von (c) Matthias Jung
*** wäre der mediale mit Werbeständen omnipräsente Lokalkrake in unserem großen Bundesland NRW, nämlich der WDR nicht so ein lahmer saturierter Haufen, sondern seinem Grundgedanken zur kulturellen Arbeit (Rundfunkgesetze!) in diesem Lande ehrlich und engagiert, ohne auf Quoten zu schauen, verpflichtet, dann müsste man diese Aufführung mindestens im Hörfunk konservieren; verdient hätte diese tolle Produktion allerdings auch eine komplette Fernsehaufzeichnung.
Credits
Priester Grigoris Almas Svilpa
Patriarcheas Andreas Baronner
Ladas Matthias Koziorowski
Michelis Albrecht Kludszuweit
Kostandis Georgios Iatrou
Yannakos Michael Smallwood
Manolios Jeffrey Dowd
Panait Alexey Sayapin
Nikolios Céline Barcaroli
Die Witwe Katerina Jessica Muirhead
Lenio Christina Clark
Ein altes Weib Marie-Helen Joël
Priester Fotis Baurzhan Anderzhanov
Ein alter Mann Bart Driessen
Andonis Arman Manukyan
Despinio Kyung-Nan Kong
Akkordeonspieler Christopher Bruckman