Martina Franca: „Festival della Valle d’Itria“

Das heurige Festival in Apulien an einem Ort, der im Dreieck der Provinzen Bari/Taranto/Brindisi liegt, fand vom 18. Juli bis 6. August statt. Das Festival steht im zweiten Jahr unter der Leitung von Sebastian Schwarz, der aber leider die Daten der Vorstellungen nicht so legte, dass man mit ein paar Tagen Aufenthalt den wichtigsten Veranstaltungen hintereinander beiwohnen konnte. So konnte ich zum Beispiel die Produktion von „Il turco in Italia“, die das Festival am 18.7. eröffnet hatte, nicht sehen, weil die weiteren Vorstellungen erst wieder am 1., 4. und 6. August stattfanden.In diesem Jahr war das Motto, in erweitertem Sinn, „buffo“. Dies schloss die genannte Rossinioper ebenso ein wie das Programm, das ich besuchen konnte.


„L’Orazio“, Pietro Auletta

Im renovierten – und nun mit Klimaanlage versehenen – Teatro Verdi „L’Orazio“, ein 1737 in Neapel uraufgeführtes dramma giocoso per musica von Pietro Auletta (1698-1771) auf einen Text von Antonio Palomba. Das Werk war damals sofort ein Riesenerfolg und tourte dann rund fünfzig Jahre lang durch Italien, wurde aber auch in London, Brüssel, Amsterdam und Kopenhagen (!) gezeigt. In diesem Zeitraum fügte zunächst Auletta selbst Teile hinzu, aber mit den Jahren kamen zahlreiche Stücke anderer Komponisten dazu, sodass die Oper zurecht ein „Pasticcio“ genannt werden darf. Die Produktion in Martina Franca gibt nur an, dass von der Regisseurin Jean Renshaw und dem Dirigenten Francesco Maria Sardelli Striche vorgenommen wurden, wobei anzunehmen ist, dass diese Stellen Rezitative betrafen bzw. nicht von Auletta stammen.

© Clarissa Lapolla

Das große Positivum der Vorstellung war die musikalische Leitung durch Sardelli, dem es mit seinem Orchestra Barocca Modo Antiquo immer gelingt, den dem heutigen Ohr oft repetitiv erscheinende Klänge (was vor allem natürlich für die weniger bedeutenden Komponisten gilt) frisch und packend erscheinen zu lassen. Szenisch gibt es nicht viel zu vermelden, denn Lisa Moro hatte ein Klavier auf eine weiße Schräge gestellt, über der sich nach der Pause ein glitzernder Violinschlüssel befand, und die Kostüme derselben Künstlerin fielen in die Kategorie „unauffällig“, wobei zu sagen ist, dass die schließlich siegreiche Liebende/Primadonna als graue Maus auf die Bühne geschickt wurde. Das bringt uns zur Handlung, die (vielleicht auch auf Grund der Striche) recht verworren ist, mit dem Musiklehrer Lamberto (Bariton), der jeweils entweder Lauretta (Mezzo) oder Giacomina/Ginevra (Sopran) favorisiert, dem Impresario Colagianni (Tenor), zu denen sich Leandro/Orazio (Tenor) und Elisa (Sopran) gesellen. Es hat nicht viel Sinn, die komplizierten Verhältnisse zwischen den Personen zu erläutern, weshalb nur gesagt sei, dass Ginevra und Orazio ebenso ein Paar werden wie Lamberto und Lauretta, das alles nach jeder Menge virtuos zu bewältigender Arien, für deren eventuelle szenische Beweglichkeit der Regisseurin nicht viel eingefallen war.

© Clarissa Lapolla

Der Beitrag der Gesangssolisten lag zwischen ordentlich und recht gut, wobei die ausländischen Künstler sich mit dem Italienischen recht schwer taten. Dazu kam, dass der teils mit neapolitanischem, teils mit venezianischem Zungenschlag zu interpretierende Colagianni von dem Kolumbianer Camilo Delgado Díaz gesungen wurde, dem diese Idiome natürlich fremd waren (der junge Tenor studiert derzeit in Köln). Szenisch war er sehr lebendig, stimmlich lief er unter „ordentlich“. Als Lamberto ließ Matteo Loi einen ziemlich matten Bariton hören, der das Alter des Sängers wesentlich höher ansetzen ließe als es tatsächlich ist. Natalia Kawalek aus Polen (Lauretta) gefiel durch szenischen Aplomb und gesangliche Präzision. Die meisten (und schwierigsten) Arien hatte Valeria La Grotta (Giacomina), die sie mit viel Herzklopfen meisterte. Die Titelrolle gab die Israelin Shira Patchornik mit sicherem Sopran, der allerdings eines memorablen Timbres ermangelte. Die gesanglich und in der Darstellung interessanteste Künstlerin war Martina Licari (Elisa), die ihrer Rolle als verstoßene Schwester nicht nur Persönlichkeit, sondern auch viele vokale Farben schenkte.

Wie sagte doch Roda-Roda (?): „Der Applaus war endend wollend“.


Pietro Auletta: L’Orazio

Teatro Verdi, Martina Franca

Besuchte Vorstellung: 25. Juli 2023 (Premiere am 22.Juli)

Musikalische Leitung: Federico Maria Sardelli
Inszenierung: Jean Renshaw
Bühne und Kostüme: Lisa Moro
Orchestra Barocca Modo Antiquo


„Il paese dei campanelli“, Carlo Lombardo und Virgilio Ranzato

Am nächsten Taggab es im Hof des Palazzo Ducaledie von Musikdirektor Fabio Luisi so sehr gewünschte Premiere der Produktion von „Il paese dei campanelli“ (ich weiß nicht, ob diese italienische Operette je auf Deutsch aufgeführt wurde und einen entsprechenden Titel hat: die Übersetzung lautet jedenfalls „Das Glöckchendorf“). Die Uraufführung fand 1923 im Mailänder Teatro Lirico statt, und die Operette konnte somit ihr 100-jähriges Jubiläum feiern. Geschrieben wurde sie als Teamwork von Carlo Lombardo (1869-1959) und Virgilio Ranzato (1883-1737). Ersterer war als Dirigent, Komponist und Librettist bekannt, letzterer ein Violinist, der sich als Komponist seit 1911 der Operette verschrieben hatte. Zusammen schrieben sie die Musik zu des hier besprochenen Werks, wobei Lombardi für die rhythmisch akzentuierten Teile (etwa im Stil eines Paul Abraham) zuständig war, Ranzato hingegen für die stimmlich fordenderen lyrischen Aufschwünge à la Lehár.

© Clarissa Lapolla

Die Textgestaltung behielt sich Lombardo vor – sein Libretto erzählt von einem holländischen Dorf, in dem sich die Ehemänner der Treue ihrer Frauen sicher sein können, denn setzte eine solche zu einem Treubruch an, würde an der Tür des betreffenden Hauses ein Glöckchen erklingen, und welche Frau will sich schon so an den Pranger stellen lassen. Die drei weiblichen Hauptfiguren sind Nela, die aus Überzeugung treue, Bombon, die ihre Seitensprünge schlau zu verbergen weiß, und Pomerania, etwas älter und von ihrem Ehemann wenig geschätzt. Letztere ist, ebenso wie jene der Herren Attanasio Prot, Tarquinio Brut und Basilio Blum mit ihren charakterisierenden Namen eine Sprechrolle. Bombon ist die Soubrette, Nela die Lyrische. Das Eintreffen englischer Matrosen wegen einer Havarie ihres Schiffs in dem Dörfchen stellt alles auf den Kopf, und die Damen (natürlich auch jene des Chors) pfeifen zum Entsetzen der Herren der Schöpfung auf ihre Tugend. Wegen der Verwechselung zweier Telegramme kommen anstatt der von den Herren erwarteten Gruppe von Tänzerinnen die Gattinnen der Matrosen, was den Frauen der Dorfgemeinschaft das Recht gibt, ihren Gatten zu zeigen, dass sie auch nicht besser sind. Nach der Abreise des reparierten Schiffs kehrt wieder Friede ein, aber ob er halten wird? Das ist die Frage vor allem angesichts der Trauer von Nela, die sich in Hans aufrichtig verliebt hatte, der aber mit seiner Frau abzieht.

© Clarissa Lapolla

Wie schon erwähnt, lässt die Musik immer wieder an Paul Abraham denken, denn Foxtrot und Charleston beherrschen das Geschehen in flotten, vor allem Bombon gewidmeten Szenen. Die lyrischen Stellen sind hübsch und vor allem im großen Duett Nela/Hans stimmlich recht intensiv, aber die rhythmisch charakterisierten Szenen sind nicht nur numerisch in der Überzahl, sondern zeugen auch von der Geschicklichkeit Lombardos, die für die Zeit vorherrschenden Tanzrhythmen zu offerieren.

Die Inszenierung von Alessandro Talevi verzichtete auf die holländische Location und verlegte die Handlung in eine Strandbar, an deren Seite der Rumpf des havarierten Schiffs zu sehen war. (Es quollen auch keine Matrosen daraus hervor, sondern Soldaten). Das eindrucksvolle Bühnenbild stammte von Anna Bonomelli, deren Name auch für die prachtvollen Kostüme aus den Zwanzigerjahren auf dem Programmzettel steht, doch war zu hören, dass diese bei einer Firma geliehen wurden, die „Der große Gatsby“ mit Leonardo Di Caprio ausgestattet hat. Wie dem auch sei, sie waren jedenfalls exquisit. Sehr zu loben ist auch die rasante Choreographie von Annamaria Bruzzese, die von acht TänzerInnen brillant umgesetzt wurde. Meiner Ansicht nach war Talevis Entscheidung der Verlegung der Handlung richtig, denn holländische Häubchen, strahlend weiße Kleider und Holzschuhe für die Damen wären vermutlich wirklich zuviel des Guten gewesen. Das gab Talevi auch die Möglichkeit einiger Spitzen gegen die kolonialen Interessen des damaligen faschistischen Systems in Italien. In diesen Szenen sah man Flamingos, ein Zebra, einen Affen, aber von den TänzerInnen so amüsant verkörpert, dass nur wer wollte sich mit diesem Hintersinn beschäftigen konnte.

© Clarissa Lapolla

Das Orchestra del Teatro Petruzelli di Bari wurde von Fabio Luisi mit viel Glauben an diese Musik geleitet. Allerdings entging der Dirigent nicht immer der Gefahr, sie allzu ernst zu nehmen, sodass seine Hand manchmal etwas schwer wurde. Aber natürlich handelte es sich um eine ausgezeichnete Leistung, die auch für den von Fabrizio Cassi einstudierten Chor des Opernhauses in Bari gilt. Bombon, der spritzige Mittelpunkt der Handlung, wurde von der Griechin Maritina Tampakopoulos interpretiert, die sich von der dramatischen Polina in Prokofjews „Le joueur“ im Vorjahr in die leichtlebige Soubrette verwandelt hatte. Obwohl sie figürlich nicht dem grazilen Schema einer solchen Figur entspricht, überzeugte sie mit umwerfendem Temperament und guter stimmlicher Leistung. Francesca Sassu als liebliche Nela wirkte anfänglich auch stimmlich etwas scheu, sang sich dann aber frei und sang sehr anständig. Ein Ausfall war leider ihr geliebter Hans in der Gestalt von Norman Reinhardt, der schrecklich knödelte und auch szenisch steif blieb. Die Bufforolle des La Gaffe (das französische „gaffe“ wird im Italienischen im Sinn von Fauxpas verwendet) bekleidete Matteo Macchioni, der leider ein Opfer der nicht besonders unterhaltsamen Dialoge war – wieder einmal waren die Originale fast gänzlich umgeschrieben worden, ohne eine wie immer geartete humoristische Wirkung zu entfalten. Genannt sei noch Silvia Regazzo als Ethel, die Frau von Hans, die die sehr komische und blendend choreographierte Truppe der englischen Ehefrauen anführte. Als Stichwortbringer Tom ergänzte Graziano de Pace.

© Clarissa Lapolla

Herzlicher Beifall bedankte diese Premiere. Die Berichterstatterin bedauert, dass sie keine Gelegenheit hatte, Jules Massenets faktisch unbekannte Operette „L’adorable Bel-Boul“ zu sehen, die am 19. und 20. Juli aufgeführt wurde, um Vergleiche zu ziehen.


Carlo Lombardo und Virgilio Ranzato: Il paese dei campanelli

Hof des Palazzo Ducale, Martina Franca

Besuchte Vorstellung: 26. Juli 2023 (Premiere)

Musikalische Leitung: Fabio Luisi
Inszenierung: Alessandro Talevi
Bühne und Kostüme: Anna Bonomelli
Choreographie: Annamaria Bruzzese
Orchester und Chor: Teatro Petruzzelli di Bari


Arienabend, Marco Filippo Romano

Ein rundum befriedigender Abend war hingegen das Recital, das Marco Filippo Romano im Chiostro di San Domenicogestaltete. Der Buffo aus dem sizilianischen Caltanissetta legt Wert auf die Feststellung, dass er ein Bariton ist, kein Bass. In der Tat werden die klassischen Bassbuffos immer weniger, was zu einem Gutteil auf das Konto des immer höher werdenden Diapasons geht, dem sich die jungen Stimmen stetig anpassen. (Das gilt ja auch für die seriösen Bassrollen, die immer häufiger von Bassbaritonen interpretiert werden).

In jedem Fall zeigte sich Romano wieder als regelrechter Matador seines Stimmfachs und entfaltete ein wahres stimmliches wie szenisches Feuerwerk. Zu Beginn des Konzerts war ihm der von der italienischen Fachzeitschrift „L’Opera“ gestiftete Preis überreicht worden, der auf ihrem Gebiet herausragende Sänger auszeichnet (der Preis soll in Martina Franca zur Tradition werden, wurde im Vorjahr erstmals verliehen und ging an die dramatische Koloratursopranistin Anna Pirozzi).

© Clarissa Lapolla

Das neun umfangreiche Arien, eigentlich Szenen, umfassende Programm war von Romano klug zusammengestellt worden und umfasste in chronologischer Reihenfolge Stücke von Leonardo Vinci über Pergolesi, Cimarosa, Mozart, Donizetti und Rossini bis Mascagni. Es ist schwierig bis unmöglich, aus der Fülle der Rollen von Don Bartolo, Don Magnifico, Dulcamara, Mamm’Agata bis zu den weniger bekannten bei Pergolesi, Cimarosa, Vinci oder Mascagnis Tartaglia auch nur eine herauszugreifen, die besser als die anderen gewesen wäre. Als Rarität war „Colomba o tortorella“ zu hören, das nichts anderes ist als die italienische Fassung von Papagenos „Ein Mädchen oder Weibchen“, als Besonderheit das Dulcamaras Auftritt begleitende Trompetensolo, das der Künstler auf einem im Familienbesitz befindlichen Instrument selbst blies.

© Clarissa Lapolla

Sonderstatus hatte das Konzert auch, weil Romano zwischen den Musikstücken erklärende Worte sprach, die für Kenner ergötzlich, für Zufallspublikum so informativ wie erheiternd waren. (Dies erklärt auch die Notwendigkeit eines Mikroports, um die Sprechstimme in den letzten Winkel des Klosterhofs gelangen zu lassen). Das von Dragan Babic sorgfältig begleitete Konzert endete nach dieser tour de force mit der Zugabe von „E‘ morto Pulcinella“, einem berührenden Lied von Francesco Paolo Tosti, in dem der italienische Hanswurst an gebrochenem Herzen stirbt, weil er an ein Ideal glaubte, das sich niemals einstellen wird. Ein nachdenklicher Schluss für einen intensiv bejubelten Abend.


Marco Filippo Romano: Arien bzw. Szenen aus Werken von Vinci bis Mascagni

Chiostro di San Domenico, Martina Franca

Begleiter am Klavier: Dragan Babic

Datum: 27. Juli 2023


Eva Pleus 8. August 2023