Leipzig: „Adès, Mozart, Bruckner“, Gewandhausorchester unter Andris Nelsons

Das Gewandhausorchester, das älteste bürgerliche Orchester im deutschsprachigen Raum, eröffnet mit diesem Konzert seine 244. Saison und das „Demokratie – Wochenende“, das es seit 2022 in Leipzig gibt. „Vielstimmigkeit“ in der Musik und in der Gesellschaft ist das Motto. Ensembles des Orchesters treten an verschiedenen Orten in der Leipziger Innenstadt auf, im Gewandhaus diskutieren prominente Gäste mit Anwesenden und miteinander über musikalische und gesellschaftlich relevante Themen. Diese Form der Diskussion, des Aufeinanderzugehens, des respektvollen Zuhörens ist beispielhaft. Die Ernennung des Gewandhauses zum „Ort der Demokratiegeschichte“ unterstreicht seine historische Bedeutung beim friedlichen Sturz des diktatorischen DDR – Regimes 1989.

Andris Nelsons / © René Jungnickel

Das Eröffnungskonzert leitet Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons, ein in aller Welt wertgeschätzter und gefragter Dirigent. Er ist der 21. in der Reihe berühmter Vorgänger wie Mendelssohn – Bartholdy, Nikisch, Furtwängler, Walter, Abendroth, Masur, Blomstedt, Chailly im Leipziger Amt, außerdem ist er Chefdirigent und Musikdirektor des traditionsreichen, ehrwürdigen Boston Symphony Orchestra, einem der Big Five in den USA.

Thomas Adès (geb. 1971) Shanty – Over the Sea für Streicher eröffnet das Konzert. Der Brite Adès, einer der meistgespielten Komponisten der Gegenwart, ist für zwei Spielzeiten Composer in Residence des Gewandhausorchesters. Vielfach geehrt, von allen bedeutenden Orchestern und Opernhäusern weltweit erfolgreich aufgeführt, ist er auch ein Pianist und Dirigent von hohem Rang. Adès vereint in seinen Werken eine große stilistische Vielfalt, beeinflusst von Jazz, Populärmusik, traditioneller Klassik, Zwölftönigkeit bis zur Barockmusik: eine Neue Musik, die die Menschen erreicht, sie anregt und ergreift. Für ihn gibt es nicht die eine richtige Musik für die Gegenwart und die Zukunft. Diese Vielstimmigkeit kennzeichnet auch „Shanty – Over the Sea“, 2020 komponiert und 2021 vom Australian Chamber Orchestra erstaufgeführt. Ein Shanty ist ein Lied, das von Matrosen bei der Arbeit gesungen wird. „Ein Shanty, wie jedes Volkslied in der englischsprachigen Tradition, erzeugt Tiefe durch Wiederholung der Melodie in vielen Strophen und Variation der Geschichte“ (Thomas Adès). Auf der Grundlage der über weite Strecken den Rhythmus vorgebenden Pizzicati erzählen17 voneinander unabhängige Streichergruppen ihre eigenen Geschichten, finden sich im Unisono und verlieren sich wieder, Das Werk ist ein kammermusikalisches Werk höchsten Anspruchs. Die Streicher des Gewandhausorchesters sorgen für eine faszinierende Klangwelt, einen nahezu schwebenden Klang, und sie entlassen die Zuhörer in eine weite, schimmernde Meereslandschaft, für Adès eine „Suche nach Freiheit und Eigenständigkeit“. Die Komposition erreicht den Hörer unmittelbar, berührt tief und gibt seiner Fantasie viel Raum.

Diese Musik ist die ideale Einstimmung auf die Rede von Navid Kermani, dem bekannten Schriftsteller, demVerfasser von Essays und Reportagen, einem „der wichtigsten deutschen Autoren und zugleich eine der bedeutendsten politischen Stimmen des Landes“ (Mithu Sanyal, Deutschlandfunk Kultur), „…poetisch und suchend, zweifelnd und wissend“ (Adam Soboczynski, DIE ZEIT).

Navid Kermani / © René Jungnickel

Für Kermani öffnet ein Konzert Herz und Ohren, ihm persönlich und uns allen im Saal und ermöglicht, trotz verschiedener politischer und gesellschaftlicher Ansichten uns, einander zuzuhören, eventuell gemeinsam darüber nachzudenken, was wäre, wenn wir z. B. die vielen Musiker in den Orchestern mit migrantischem Hintergrund zu Staatsbürgern zweiter Klasse degradierten, wenn Menschen wegen ihrer Herkunft, ihres Glaubens wieder verfemt und ausgeschlossen würden, wenn wir nicht in einem demokratischen Staat mit all seinen Freiheiten der Meinungsäußerung und Selbstverwirklichung lebten. Kermanis Wortbeitrag verleiht dem Abend ein außergewöhnliches, intellektuelles Gewicht, ein Beitrag, über den längeres Nachsinnen lohnt, der aber auch auf besondere Weise zum nächsten musikalischen Werk des Abends überleitet.

Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) Konzert für Klavier und Orchester C – Dur KV 503, Solist: Daniil Trifonow

Mozart übersiedelt 1781 von Salzburg nach Wien, dort erwartet ihn ein begeistertes Publikum. In einem Brief an seinen Vater schreibt er: „Die Concerten sind eben das Mittelding zwischen zu schwer und zu leicht – sind sehr Brillant – angenehm in die ohren – Natürlich, ohne in das Leere zu fallen – hie und da können auch kenner allein satisfaktion erhalten – doch so – dass die nichtkenner damit zufrieden seyn müssen, ohne zu wissen warum“. In seinen Kompositionen nach 1782 kommt es zu einer Vertiefung des persönlichen Ausdrucks, der Erweiterung der Dimension zu sinfonischer Struktur mit detaillierter, harmonisch abwechslungsreicher motivischer Arbeit, ein Weg, der letztlich direkt zu Ludwig van Beethoven führt. 1786 vollendet Mozart das Konzert KV 503, es wird vermutlich 1787 in Wien uraufgeführt. 1789 reist er nach Dresden, Leipzig und Potsdam, macht auf der Rückreise noch einmal Station in Leipzig, um „leiptzig nicht zu affrontiren, sondern dienstags den 12.ten may eine Academie zu geben“, im Gewandhaus mit dem Gewandhausorchester. Dabei steht auch das Klavierkonzert KV 503 auf dem Programm. Allerdings kann die enthusiastische Begeisterung des Publikums Mozart nicht über magere Einnahmen und die enttäuschte Hoffnung auf eine Anstellung hinweg trösten.

Das Klavierkonzert KV 503 wird mit sinfonisch festlichen Akkorden eröffnet, Allegro maestoso. Das Orchester stellt das erste Thema vor. Nun erwartet man den üblichen Einstieg des Soloklaviers, doch erst einmal führt das Orchester den thematischen Gedanken weiter aus, das Klavier mischt sich erst später in den musikalischen Diskurs ein. Schon das zweite Thema wechselt nach Moll. Die Durchführung ist harmonisch und motivisch äußerst erfindungsreich gestaltet. Dieser erste Satz ist der längste seiner Instrumentalkonzerte. Es folgt ein Andante, nachdenklich und ausdrucksvoll mit ständig wechselndem Rhythmus. Solistisch konzertierende Holzbläser korrespondieren mit dem Klavier. Das finale Allegretto ist ein Rondo, virtuos und geistvoll. Es beginnt lustig, um dann vorübergehend, aber immer wieder, nach Moll zu wechseln. Schließlich endet der Satz voller Zuversicht und Freude nicht ohne noch den Idomeneo zu zitieren. Der vielfältige Wechsel zwischen Dur und Moll, die rhythmisch und harmonisch raffinierte Behandlung der Themen, die Mischung von Witz und Ausdruckstiefe machen dieses Konzert zu einem der großen Meisterwerke der Musikliteratur.

Daniil Trifonow, der Solist des Abends, ein russischer Pianist und Komponist, 1991 geboren, lebt heute in New York. 2011 ist er Sieger der zwei bedeutendsten Klavierwettbewerbe, des Rubinstein – Wettbewerbs in Tel Aviv und des Tschaikowski – Wettbewerbs in Moskau. Das bedeutet den Beginn einer weltumspannenden Karriere als Konzertpianist. Für den renommierten Musikkritiker Helmut Mauró gilt Trifonow „als eines der erfolgreichsten und unbegreiflichsten Klaviertalente der letzten Jahrzehnte“. Trifonow und Nelsons arbeiten seit vielen Jahren zusammen. Auch das Konzert KV 503 haben sie bereits oft miteinander musiziert. Das zeigt sich in der kongenialen Abstimmung der beiden Interpreten. Nach dem glanzvoll auftrumpfenden Orchestertutti des Beginns fügt sich Trifonow fast bescheiden in das musikalische Geschehen ein, über weite Strecken wie ein Orchesterinstrument aber immer klar, klanglich sensibel, in wunderbarer Korrespondenz mit den solistischen Holzbläsern. Dabei scheint er, besonders in der eigenen Kadenz des ersten Satzes, ein Pianist ohne virtuose Grenzen zu sein. Die virtuose Zugabe, eine Version des Scherzo cis- Moll aus der 1. Sinfonie von Tschaikowski entlässt das begeisterte Publikum in die Pause.

Daniil Trifonow / © René Jungnickel

Anton Bruckner (1824 – 1896) Sinfonie Nr. 6 A- Dur WAB 106

Mit der Aufführung seiner 6. Sinfonie feiert das Gewandhausorchester den 200. Geburtstag des Komponisten. Bruckner, ein Bewunderer der Idee Richard Wagners von einem Gesamtkunstwerk, gerät zwischen die Fronten der Anhänger von Brahms und Wagner. Von Eduard Hanslick, dem namhaften Musikkritiker verspottet, gilt Bruckner zu Lebzeiten als unbeholfener Sonderling und Außenseiter. Der Komponist selbst hat eine Aufführung seiner 6. Sinfonie nicht erlebt. Die Wiener Philharmoniker spielen 1883 lediglich die beiden Mittelsätze. Unter Gustav Mahler erlebt die Sinfonie eine Gesamtaufführung, allerdings mit starken Eingriffen und Kürzungen. 1913 ist sie unter Arthur Nikisch im Gewandhaus zu hören. Nikisch leitet 1920 den weltweit ersten Zyklus aller Sinfonien Anton Bruckners. Seitdem sind sie fester Bestandteil des Repertoires des Gewandhausorchesters. Der Komponist sagt über seine sechste Sinfonie, sie sei seine „keckste“. Allerdings bedeutet sie aus heutiger Sicht weit mehr als das: sie ist in ihrer höchsten kompositorischen Konzentration, in der Vielfalt der verwendeten kompositorischen Mittel und deren Verknüpfung eine Art Vorgriff auf Anton Webern, auf die Zweite Wiener Schule. Bruckners Sechste, am 3. September 1881 vollendet, ist die am wenigsten gespielte und kürzeste seiner Sinfonien. Der erste Satz Maestoso beginnt mit einem Streicherrhythmus, der begleitend im Satz immer wieder erscheint. Fortlaufend werden 2er – und 3er – Metren  kombiniert, das zweite Thema wechselt in einen 6er – Rhythmus. Der erste Hauptgedanke führt den Satz schließlich zu einem glanzvollen Abschluss. Im zweiten Satz lösen sich Momente großen Glücks mit schmerzlich klagendem Ausdruck tiefer Resignation ab. Der Satz endet mit einem leisen, himmlischen Schluss. Nebenbei angemerkt, diesen Satz, gespielt von den Wiener Philharmonikern, wünschte sich Bruckner zu seinem Begräbnis. Das folgende Scherzo ist eine Geistermusik mit einem nur zweiminütigen (!) Trio. Das  abschließende Finale, eine gewaltige Improvisation, verbindet auf geniale Weise Anfang und Ende des Werkes. Von Bruno Walter stammt das Zitat: „Mahler ist auf der Suche nach Gott, Bruckner hat ihn gefunden“. 

Die Vertrautheit des Orchesters und seines Dirigenten mit dem Werk des Komponisten lässt die Aufführung zu einem tiefen Erlebnis werden. Es wird leicht und klar musiziert, mit feinen Übergängen, dynamisch hervorragend ausbalanciert. Das Gewandhausorchester und sein Dirigent Andris Nelsons beweisen mit diesem Abend ihre Qualität von höchstem Rang. Der Hörer wird sich an dieses Konzert lange erinnern.   

Bernd Runge, 7. September 2024


Thomas Adès: Shanty – Over the Sea für Streicher
Wolfgang Amadeus Mozart: Konzert für Klavier und Orchester C – Dur, KV 503
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 6 A – Dur

Gewandhaus zu Leipzig

6. September 2024

Dirigent: Andris Nelsons
Solist: Daniil Trifonow
Gewandhausorchester Leipzig