Archiv des Lebens
Die Griechische Nationaloper hatte wegen einer dreiwöchigen, allgemeinen Schliessungsphase für Theater und Kinos die ersten Aufführungen der Saison absagen müssen. Letzte Woche nun ging es los mit Puccinis „Madama Butterfly“ und dem Tanzabend „Human Behaviour“ auf der Alternativen Bühne des Hauses. Der Ballettdirektor Konstantinos Rigos hatte zwei erfolgreiche Choreographen eingeladen, welche interessante Recherchen zur Frage präsentieren, was Tanz sein und wie er rezipiert werden kann. Ioannis Mandafounis arbeitet seit gut zwei Jahrzehnten im Ausland, war unter anderem Mitglied der Frankfurter Forsythe Company und hat nun sein eigenes Tanzensemble, das in Genf angesiedelt ist. Ermira Goro arbeitete nach ihrer Ausbildung zunächst in New York, bevor sie als Choreografin erfolgreich in Griechenland Fuss fasste. Nach der langen Schliessung der Oper ist man über die dargebotene Körperlichkeit, noch dazu im eher intimen Rahmen der Alternativen Bühne, mehr als erfreut. Sehr physisch gerät auch der musikalische Part, den ein Streichquartett live beisteuert. Die Musiker Antonis Sousamoglou, David Bogorad, Athanassios Sourgounis und Yannis Stefos machen ihre Sache ausgezeichnet.
„Point of no Return“. Copyright: Valeria Isaeva
Ioannis Mandafounis` Choreografie „Point of no Return“ basiert auf einer Recherche, welche die mehr als 300 Tanzbewegungen des klassischen Balletts gleichsam archiviert und reflektiert. Indem dieses Bewegungsrepertoire in ungewohnter Abfolge präsentiert wird, Gegensetzungen zu ironischer Brechung führen und die einzelnen Posen mehr denn je „ausgestellt“ zum Nachdenken anregen, wird ein lebendiges, heiter anmutendes Archiv des Lebens auf die Bühne gebracht. Der Fluss des Ganzen, das irritierende Nebeneinander und die Interaktionen zeigen Mandafounis tiefes Verständnis der Kunstform Tanz. Das neoklassisch daherkommende Streichquartett von Giorgos Koumendakis, das auf traditionelle, griechische Musik Bezug nimmt, passt nicht schlecht zu diesem ironischen Blick auf tänzerische Tradition. Die fünfzehn Tänzerinnen und Tänzer erfüllen ihre Aufgaben auf hohem Niveau und machen auch die Wende der Choreographie äusserst glaubhaft, wenn die klassischen Posen und Sprünge plötzlich zu zuckenden Tanzgebärden unserer Zeit werden. Mandafounis gelingt es überzeugend, diese Entwicklungslinie als lustvolles Ereignis auf die Bühne zu bringen.
„Plan B“. Copyright: Valeria Isaeva
Bereits der Titel von Ermira Goros Arbeit verspricht unmittelbare Zeitgenossenschaft: „Plan B“. Das Unstete und das Wechselhafte sind die Grundmotive ihrer Choreographie. Die asymmetrischen Klangformen der Musik von Dimitra Trypani legen gleichsam den Untergrund für Bewegungsfolgen, die permanent vom Abstrakten ins Konkrete und zurück gehen. Das neunköpfige Ensemble setzt diesen mäandernden Fluss von Momenten des Erscheinens und Verschwindens eindrücklich in Szene. Wie bei Mandafounis herrscht ein leichter Ton vor, ein Parlando gewissermassen. Goro zeigt in ihrem kurzen Werk, wie Tanz auf aktuelles Geschehen reagieren kann, indem es das Reagieren zum Thema macht – und schnelles Reagieren auf neue Entwicklungen ist derzeit angesagter denn je. Kleine tänzerische Bewegungen vermögen dabei grosse Emotionen und physische Zustände sichtbar zu machen.
Das Publikun bedankt sich für den anregenden Tanzabend mit anhaltendem Beifall und vereinzelten Bravorufen.
Ingo Starz, 24.10.2020
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