Happy end für Hamlet?
„Der Rest ist Schweigen“ sind die letzten, vielzitierten Worte Hamlets in William Shakespeares gleichnamiger Tragödie, „Mon âme est dans la tombe, helas! Et je suis roi!“ singt er in Ambroise Thomas‘ Oper, die 1868 in Paris uraufgeführt wurde, aber bereits 1869 in London eine Änderung erfuhr und wie bei Shakespeare mit dem Tod des Dänenprinzen statt mit seiner Krönung endete. Für das Überleben des Dänenprinzen verantwortlich sind Dumas der Ältere und François Paul Meurice, die die Vorlage für den Verfasser des französischen Librettos lieferten. Wer erwartet hatte, dass die Komische Oper zur Fassung des englischen Dichtergenies zurückkehrt, sah sich am 16. April bei der Premiere, eine der letzten im Stammhaus, ehe man ins Schillertheater umzieht, getäuscht, denn das Regieteam sieht in der Originalfassung der Oper mehr Tragik, da in ihr Hamlet sich der Wirklichkeit nicht mehr verweigern kann, klaren Auges in den Abgrund des Lebens schaut, ein Schicksal, das schlimmer als der Tod ist, auf sich nimmt.
Mehr als der Grand opéra, als die er in die Musikgeschichte einging, nähert sich Hamlet der opéra lirique, trotz der fünf Akte und des umfangreichen Balletts zu Beginn des vierten Akts , denn im Mittelpunkt des Interesses steht die Beziehung zwischen dem Titelantihelden und der stark aufgewerteten Ophélie, die Verbindung zwischen Tragischem und Groteskem. Letzteres wird in der Produktion der Komischen Oper durch Regisseurin Nadja Loschky noch dadurch betont, dass nicht nur der Schädel des Narren Yorick eine Rolle spielt, sondern dass ihn die Regie Hamlet als eine Art alter ego zur Seite stellt, das Lied des Narren aus Was ihr wollt, natürlich in englischer Sprache, erklingt.
Das Libretto sieht einen Schauplatzwechsel zwischen prachtvollem Schloss und ödem Friedhof vor, die Bühnenbilder von Etienne Pluss lassen das Schloss mit vielseitig verwendbarer Treppe selbst zum Gottesacker mutieren, das Erdreich erobert sich von Akt zu Akt immer mehr vom Menschenwerk zurück, verrät das Programmheft. Das wird allerdings insofern Lügen gestraft, als der Narr kurz vor der Pause mit der Spitzhacke die ersten Vernichtungsschläge ausführt, nach der Pause aber das Werk bereits vollbracht ist. Dieser Figur ist in der Handschrift von Irina Spreckelmeyer auch das einzige Kostüm aus der Shakespearezeit vergönnt, alle anderen sind in zeitloses Burgunderrot gekleidet, wirken wie Hotelpagen oder weibliches Dienstpersonal, Hamlet trägt helles Beige, und dazu kommen noch rätselhafte Gestalten, die sich von Akt zu Akt vermehren, bis sie beim alle Neune angelangt sind und die beiden Anführer sich als die Totengräber entpuppen. Man kann annehmen, dass Britisches in die Produktion mit eingebracht werden sollte, denn sie tragen Melone, Regenschirm und Aktentasche, bringen zudem ein surreales Element in die Produktion. Ophélie wie ihrer Doppelgängerin ist ein Brautkleid vergönnt, und die tragenden Rollen sind doppelt mit stummen Ebenbildern besetzt. Der Abend erfreut durchgehend mit einer stimmigen Personenregie mit nur wenigen Ausnahmen, so wenn der Geist des Königs als Kettenraucher auftritt. Das dem französischen Geschmack geschuldete Ballett lässt man als Traum Ophélies von der Hochzeit mit Hamlet aufführen- und das ist auch gut so (Choreographie Thomas Wilhelm).
Man sagt, auch das Auge esse mit, aber das Auge hört ebenfalls mit, und so ist es ein großer Gewinn für diese Produktion, dass die Protagonisten ausgesprochen attraktive Menschen sind, denen man auch das jugendliche Alter, in dem sich ihre Rollen befinden, ohne weiteres abnimmt. Huw Montague Rendall ist der blondgelockte, wendige Hamlet mit geschmeidigem, sonorem Bariton, der auch kraftvoll ausholen und im Forte die vokale Façon bewahren kann. Manchmal klingt die Extremhöhe etwas zu offen, und ganz zum Schluss hat er nicht die vollkommene Kontrolle über seine Stimme, was sich aber in Folgevorstellungen ändern wird. Zu Recht konnte er sich beim Schlussbeifall über auf die Bühne (und in den Orchestergraben) geworfene rote Rosen freuen. Ein zartes blondes Wesen und damit schon einmal optisch ideal ist die Ophélie von Liv Redpath, die ihre beiden Bravourarien mit kristallinem, höhensicherem Sopran von feiner Süße bewältigt und für das Lied von der Willis eine schöne Melancholie in der Stimme hat. Aus dem Orchestergraben wird sie von Flöte und Harfe unterstützt. Nicht ohne Schärfe in der Höhe singt Karoline Gumos die Gertrude, während Tijl Faveyts einen sonoren Claudius gibt. Schön orgeln kann Jens Larsen als Geist, José Simerilla Romero hat einen angenehmen lyrischen Tenor für den Laërte, Stephen Bronk von der Deutschen Oper ist ein zufrieden stellender Polonius. Mit jungen Stimmen sind Ferhat Baday und Ferdinand Keller die beiden Totengräber. Eigentlich keinen Grund zum Wahnsinnigwerden, ob echt oder gespielt, hat Hamlet mit einem Gefährten wie dem Narren Yorick, der von Kjell Brutscheidt berührend gespielt und so fein gesungen wird, dass man bedauert, dass ihm nicht noch mehr Musik zugestanden wurde. Als wahre Chorsolisten beweist sich einmal mehr der Chor unter Jean–Christophe Charron, der Orchesterklang, verantwortet von Marie Jacquot, könnte anstelle von einigem überlautem, breitem Pathos etwas mehr straffe Eleganz vertragen.
Zwar erlebte der Hamlet nach seinem triumphalen Erfolg in den Jahren nach seiner Entstehung bis hin zum Ersten Weltkrieg einen tiefen Fall ins Fastvergessenwerden und erst ab ca. 1960 eine schüchterne Wiederauferstehung, doch der richtige Durchbruch, die selbstverständliche Aufnahme ins Repertoire, blieb ihm bisher verwehrt. Mit der Produktion der Komischen Oper könnte seine Renaissance beginnen.
Ingrid Wanja, 16. April 2023
Hamlet
Ambroise Thomas
Komische Oper Berlin
Besuchte Premiere am 16. April 2023
Inszenierung: Nadja Loschky
Bühne: Etienne Pluss
Kostüme: Irina Spreckelmeyer
Chorleitung: Jean-Christophe Charron
Choreographie: Thomas Wilhelm
Musikalische Leitung: Marie Jacquot
Orchester der Komischen Oper Berlin