München: „Mendele Lohengrin“, Evgeni Orkin

„Ich will nicht immer denselben Unsinn spielen“, sagt der Musiker Mendele Klesmer, nachdem er die Musik seines neuen Meisters kennengelernt hat.

Der „Meister“, das ist, natürlich, Richard Wagner. Was Wagner mit den Juden und dem Judentum zu tun hat, muss man den Wagner-Kennern nicht erläutern, oder anders: Wagner und das Judentum – das ist, wie Udo Bermbach einmal schrieb, ein unabschließbares Thema. Zu vertrackt sind da die Wege, die von Wagner zum Judentum führen, was jenseits des bekannten Wagnerschen Antisemitismus sogar so weit geht, dass der Philologe Wolf-Daniel Hartwich Spuren der Kabbala im Parsifal entdeckte. Umgekehrt haben sich bis heute viele Juden als Unterstützer des Werks Richard Wagners und als größte Wagner-Anbeter und -Freunde erwiesen; der „Bann“, der über Aufführungen seines Werks in Israel herrscht, ist ein Politikum, ja: ein vermintes Gelände, in dem die Wagner-Gegner beständig gegen die Wagner-Verehrer kämpfen. Der Holocaust hat alles verändert; nach 1945 liest sich Wagners berüchtigte – und kaum wirklich gelesene – Schrift Das Judenthum in der Musik mit seinen (noch relativ höflichen) Invektiven gegen Mendelssohn und seinen Angriffen gegen Meyerbeer und das jüdische Volk natürlich anders als vor 1945.

Wer sich im 19. Jahrhundert zu Wagner bekannte – darunter waren, wie gesagt, viele jüdische Wagnerianer , hatte es noch relativ leicht. Man differenzierte wie man’s meistens tat, und wie es heute noch nichtjüdische Musikliebhaber tun, einfach zwischen dem problematischen Menschen Wagner und seiner genialen Musik, ja: dass Theodor Herzl ein eminenter Wagner-Verehrer war, der bei einem seiner zionistischen Kongresse Wagner spielen ließ, obwohl er dessen Gedanken bezüglich des Judentums kannte, war kein Verkehrsunfall, sondern typisch. Wenn also nun in München, mit dem Jüdischen Kammerorchester, eine Erzählung von 1898 als konzertantes Singspiel uraufgeführt wurde, darf man sich gern – und mit Lust! – an die besondere Art, aber auch an die Schwierigkeiten der jüdischen Wagneritis von Anno 1900 erinnern.

© Thomas Dashuber

Die Sache ist ein Coup. Bislang war die Erzählung Mendele Lohengrin des interessanten zionistischen Schriftstellers Heinrich Elchanan York-Steiner wohl nur denen bekannt, die Daniel Jüttes Aufsätze zum Thema, besonders seinen Beitrag im Wagnerspectrum, Heft 1/2013 (Oberthema: „Jüdische Wagnerianer“), zur Kenntnis nahmen. Jütte berichtete damals über eine Erzählung, die 1898 in drei Teilen in Theodor Herzls Zeitschrift „Die Welt“ gedruckt worden war; man findet sie übrigens relativ schnell im Netz. Der Inhalt ist, man darf da gern die Homepage des Jüdischen Kammerorchesters zitieren, schnell erzählt: „Ein armer jüdischer Musikant, der seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht mit Hochzeitsauftritten verdient, erfüllt sich einen Traum: Von seinem mühsamen Ersparten leistet er sich einen Besuch im kaiserlichen Hoftheater in Wien. Zufällig hört er – ohne jedes Vorwissen – Wagners Lohengrin. Die Oper verändert sein Leben: zurück in seinem Schtetl möchte er zu jüdischen Festen nur noch Wagners Melodien spielen, nicht mehr die traditionellen Melodien – das führt natürlich zu einem Konflikt.“ Am Ende zertrümmert er sein „Bassettl“, also seinen Kontrabass, sodass – dies das Ende der Erzählung – man im Shtetl namens Martinsdorf keine (jüdische) Musik mehr spielen kann, weil Mendele Klesmer, den sie spöttisch „Mendele Lohengrin“ oder „Reb Lohengrin“ nennen, sein Instrument zertrümmert. Während die Erzählung den Leser eher ratlos zurücklässt, weil nicht klar wird, wie es mit Mendele in seiner „community“ weitergehen wird, bietet die Aufführung in den Kammerspielen unter Daniel Grossmann eine alternative Lesart an – sie ist rein musikalischer Natur, vermag also, ganz im Sinne des jüdischen Wagnerianismus, der nicht auf das (Wagner-)Wort, sondern die (Wagner-) Musik setzt, das Problem zu lösen, indem es Wagners menschliche Haltung zugunsten der Anbetung des großen Künstlers und „Musikpropheten“ Richard Wagner ignoriert. Am Ende hören wir also einen mitreißenden Galopp, in dem sich nicht allein das Fanfarenmotiv des Beginns des dritten Lohengrin-Akts eingeschmuggelt hat. Wir hören auch einen Anklang an das sog. Sehnsuchts-Motiv des Tristan. Kein Wagner-Leitmotiv dürfte geeigneter sein, um die Gefühle des wagnerliebenden, nach „Erlösung“ durch die Wagner-Musik strebenden Juden auszudrücken.

Abgesehen von der Tatsache, dass es nicht zufälligerweise der Lohengrin ist, der in Mendele die rasende und einseitige Liebe zur Meistermusik auslöst. Die strahlende Gestalt des Erlösers: das war damals für nicht wenige jüdische Musikliebhaber die Figur, die ihrem Sehnen nach einer Erlösung von den Fesseln des antisemitischen Westens am besten Ausdruck geben konnte, auch nach dem Erkannt werden, ohne dass man seinen „Namen“ verraten musste,  mit der „Aussicht auf Versöhnung höchst unterschiedlicher Sphären“ (Jütte). Lohengrin als jüdische Identifikationsfigur – dies ist der historische Urgrund für die seltsame Wandlung des kleinen jüdischen Musikers, der uns Fragen stellt, die immer wieder beantwortet werden müssen: „Was hat die Musik mit die Juden zu tun oder mit die Christen? […] Is Musik koscher? Is eine Melodie trefe? Muss man denn Noten einsalzen und auswaschen? Muss man eine Fidel schachten?“ Die nächste Frage ist schon ein Problem: „Wie heißt also, Wagner is e Judenfeind?“ In dem Moment, in dem er Wagners Judenthum in der Musik begriffen hat, auch das, von heute aus gesehen, vieldeutige Wort vom „Untergang“ des Judentums (dem der Untergang des Christentums parallelisiert wird …), wird die Sache schwierig, aber da ein Singspiel-Abend auf der literarischen Grundlage eines Texts von 1898 nicht dazu dienen kann, alle möglichen Aspekte des Themas abzuhandeln (wie gesagt: es ist unabschließbar), genügt es, eine so bewegende wie lustige, so hinreißend agile wie nachdenkliche Musikalisierung der im übrigen kurzweiligen und weniger schlichten, als es Daniel Jütte 2013 suggerierte, Erzählung York-Steiners auf die Bühne zu bringen.

Die „Geschichte von bescheidenem Anspruch“ ist denn doch von beträchtlichem Interesse – zumal dann, wenn Stefan Merki sie nuancenreich, gekürzt und in einzelnen Episoden sinnvoll umgestellt spricht. Es macht schon immenses Vergnügen, nur den Text zu hören. Ethel Merhaut singt die jiddischen Lieder, gar einen neuen Text auf die Ballade der Senta. Das ist in bestem Sinne witzig, indem mit dieser Erlösungshoffnungsmusik zugleich eine Szene der von Martin Valdés Stauber eingerichteten Erzählung singend erzählt wird. Es macht auch immense Freude, dem schick und glitzergoldgewandeten Sopran zuzuhören, dessen klarer Klang, zwischen Chanson und Lied changierend, dem Judentum Gehör gibt. Unter den ein Dutzend Musikern des JCOM ragt der Mann am Bassettl, also Maximilian Fraas, heraus, weil er als musikalischer Begleiter des Kontrabassisten Mendele viel zu tun hat. Ansonsten ist jeder einzelne und jede einzelne Musiker(in) ein Solist, auch im gelegentlichen Mitsingen und -sprechen.

Evgeni Orkin, ein Mann vom Jahrgang 1977, der am Abend am Pult der beiden Klarinetten sitzt, hat dem Mendele Lohengrin eine Musik verpasst, die mit Wagner-Zitaten glücklicherweise sparsam umgeht, denn Mendele Lohengrin ist ein „Klezmer-Singspiel“, keine Wagner-Paraphrase oder gar Parodie. Beginnt der Abend mit dem Konzertmeister Sandor Galgoczi und den ersten Takten des Lohengrin-Vorspiels, nehmen sie sogleich eine überraschende Wendung in Richtung Holzbläser, die an Elsas Motivik erinnern mögen. Der Beginn wird später noch einmal gebracht: eingebettet in Klezmer-Walzer, Klezmer-Tangos und Klezmer-Tänze, die schier in die Beine fahren. Zerreisst Mendele auch Wagners Schriften (der Sopran und das Schlagzeug machen’s auch), so bleiben doch die Notenseiten übrig, nachdem sich Mendele in den Zug nach Wien gesetzt hat. Dies ist nur einer der Höhepunkte des Singspiels: die Imitation des anfahrenden, dann in schneller Fahrt in die Hauptstadt eilenden trains (Honeggers Pacific 231 ist dagegen ein Langeweiler). Wunderbar auch der ins Dissonante gezogene Radetzky-Marsch, schön die lyrischen Lieder, bei denen man kaum ein Wort, aber sonst alles versteht. Der Komponist hat mit seinem Singspiel, wie Theodor W. Adorno einmal in Zusammenhang mit Gustav Mahlers Wunderhorn-Liedern schrieb, „auf musikalisch obdachlosem Zug nach dem zerbrochenen Glas auf der Landstraße“ gegriffen. Er „hält es gegen die Sonne, dass alle Farben darin sich brechen“. Wie gesagt: die Tanzmusik fährt mitsamt ihren klezmeristischen Jubel- und Sorgenschreien in die Beine, die jiddischen Trauergesänge – denn die Tränen, schrieb York-Steiner vor 127 Jahren, sind der Juden „Vaterteil und ihr Muttererde seit vielen, vielen Jahrhunderten“ –, diese Gesänge greifen ins Herz, wenn Ethel Merhaut sie so singt. Das ist kein Kitsch, sondern klar wie eine salzige Träne auf einem weinenden Gesicht.

„Wagner ist gerecht“, meint Mendele, „er kennt die Ursachen unserer Gebrechen.“ Das war, man liest es immer wieder verstört, tatsächlich die Meinung jüdischer Wagnerianer. Und doch: „Wer e solche Musik macht, der steht zunächst zu Schemis borach, zu Gott selber, und wer so hineingreifen kann in ein Menschenherz…“ Es gilt für alle gute Musik – so wie die, die Evgeni Orkin zusammen mit dem Jüdischen Kammerorchester am Uraufführungs-Abend so witzig-melancholisch und durchaus nicht unsinnig auf die Bühne der Münchner Kammerspiele brachte.

PS: Vorschlag: Man sollte die Produktion auf eine CD bannen, mit einem Booklet samt komplettem Libretto. Die Erzählung hätte es ebenso verdient wie die Musik. Mit knapp 80 Minuten Spieldauer hat man ja schon die ideale Länge einer CD erreicht…

Frank Piontek, 28. Januar 2025


Mendele Lohengrin
Klezmer-Singspiel von Evgeni Orkin, nach einer Erzählung von Heinrich York-Steiner

Münchner Kammerspiele

Premiere: 26. Januar 2025

Musikalische Leitung: Daniel Grossmann