Ein enorm spannendes und kontrastreiches Programm offerierte das Hessische Staatstheater Wiesbaden. Leben und Tod mit verschiedenen Zwischenstadien in Musik formuliert, mitunter keine leichte Kost und doch ein Spiegelbild des Lebens.
Es war der 18. November 1889 in Weimar, als Hofkapellmeister Richard Strauss sein neues Orchesterwerk „Don Juan“ uraufführte. Ein wunderbares Stück der Kategorie Programmmusik, dass den Frauenheld in satten Farben in seinen Liebesabenteuern und Schwertkämpfen präsentiert, ehe dieser völlig abrupt in e-moll verstirbt. Strauss, der wunderbare Geschichtenerzähler, zeigte hier seine Meisterschaft an kompositorischen Einfällen und herrlichen Leitmotiven. Ein Feuerwerk für jedes Orchester.
Gast-Dirigent Yoel Gamzou ging mit dem beherzt aufspielenden Hessischen Staatsorchester Wiesbaden in die vollen und ließ es an nichts fehlen. Sehr expressiv in der Bildsprache, deutlich in den Kontrasten und hinreichend kantabel in den lyrischen Momenten sorgte Gamzou für einen hinreißenden Beginn. Das Hessische Staatsorchester zeigte sich hellwach und überaus spielfreudig. Strahlende Hörner, virtuose Streicher, und betörende Holzbläser sorgten für besondere Erlebnismomente.
Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Wie sehr sollte Gustav Mahler diese schmerzvolle Lebenserfahrung machen! Umso befremdlicher mag es erscheinen, dass der Komponist seinen Zyklus „Kindertotenlieder“ in einer Zeit des Glückes komponierte. Seine Frau Alma reagierte seinerzeit völlig fassungslos über die Idee, die traurige Lyrik von Friedrich Rückert zu vertonen. Sie rief aus: »Ich kann es wohl begreifen, dass man so furchtbare Texte komponiert, wenn man keine Kinder hat, oder wenn man Kinder verloren hat. Ich kann es aber nicht verstehen, dass man den Tod von Kindern besingen kann, wenn man sie eine halbe Stunde vorher, heiter und gesund, geherzt und geküsst hat!«
War Mahler düsterer Prophet seines Glückes? 1907 starb seine über alles geliebte Tochter Maria-Anna an Scharlach. Fünf Lieder komponierte Mahler mit diesem Tabubruch, der ihm viel Kritik einbrachte. Mahler musste nach dem Tod von Maria-Anna einräumen, dass er niemals in der Lage gewesen wäre, mit dieser Bürde diese Musik zu schreiben.
Der hoch musikalische und so sensible Sängerkünstler Johannes Martin Kränzle war der perfekte Solist für diesen kleinen Zyklus, den er mit vollendetem Stil-Gefühl und größter Sensibilität vorzutragen wusste. Mit erlesenem Legato und fein genutzten Mezzavoce Effekten blätterte Kränzle in diesen so berührenden Liedmomenten und kostete jede Silbe der Rückert Texte aus.
Mahler-Fan Yoel Gamzou trug dabei den Bariton musikalisch auf den Händen und sorgte für eine perfekte Balance zwischen Sänger und Orchester. Auch hier war das Hessische Staatsorchester Wiesbaden ein farbreicher Partner, immer genau mit dem Sänger verbunden.
Nach der Pause wurde das Wiesbadener Publikum Zeuge einer Uraufführung. Johannes Martin Kränzle stellte sich als Komponist vor und präsentierte seine groß dimensionierte Streicher-Suite „Mutationes. Memento Coronae“. Eine musikalische Verarbeitung der unsäglichen Corona-Zeit, die Komponist Kränzle nutzte, seine Gedankenwelt in Klanggebärden auszudrücken.
Das allzu lange Werk, knapp vierzig Minuten, forderte das Wiesbadener Publikum sehr deutlich. Plötzlich stieg der Hustenpegel des sonst so ruhigen Publikums, kein gutes Zeichen, und ein paar Zuhörer auf der Galerie traten die Flucht an.
Zu erleben war bedauerlicherweise lediglich eine musikalische Versuchsanordnung, in gefühlt endlosen dissonanten Klangreihungen mit immer wiederkehrenden abrupten Schlüssen. Selten hellten sich die Klänge auf. Erkennbare Themen und klare Harmoniefolgen gab es nicht. Immer wieder schräge, reibende Unisonoklänge, manchmal immerhin eine leicht aufhellende Walzertanzfolge, aber es fügte sich nicht zusammen und blieb insgesamt eine beziehungslos anmutende Collage, die auf der Stelle trat. Leider ist festzustellen, dass diese Komposition nicht die Qualität besitzt, sich als Zuhörer diesem musikalischen Angebot freiwillig aussetzen zu wollen. Zu sehr konnte man an einen Ausspruch denken, den Michael Gielen in seiner Frankfurter Zeit vertrat, der meinte, dass Musik für den Zuhörer Arbeit sei und niemals Genuss. Eine ideologische Arroganz, die sich selbst kommentiert. Gielen widersprach seiner eigenen These in seinem Alters-Stil, der den so spröden Musiker dann doch ins erlebbare musikalische Gefühl stellen konnte. Doch, das ist eine andere Geschichte.
Kränzle würde seinem Werk einen guten Dienst leisten, um es auf etwa zehn Minuten zu kürzen und dafür die wenigen hellen Momente seiner Komposition zu verdichten. In dieser gegenwärtigen Form dürfte es ein seltener Gast im Konzertsaal bleiben. Es spricht sehr für die Qualität des Hessischen Staatsorchesters Wiesbaden, das mit viel Engagement und künstlerischem Ernst diese Uraufführung realisierte. Auch hier war Yoel Gamzou mit Engagement bei der Sache.
Unfreiwillig konnte sich nach diesem Erlebnis der Zuhörer ein wenig in die beschließende Komposition „Tod und Verklärung“ versetzt fühlen. Zum Schluss also noch einmal Richard Strauss mit seinem Orchesterwerk „Tod und Verklärung“, welche dem Wiesbadener Publikum reichlichen Hörbalsam am Konzertende spendete.
Gespenstisch realistisch beschreibt Strauss den Sterbeprozess eines Todgeweihten. Das Leben zieht noch einmal vorüber. Immer wieder peinigen Schmerzen. Dann die erlösende Verklärung. Strauss findet mit diesem Geniestreich zu einer Gefühlstiefe und Ausdrucksintensität, die zuweilen schwer erträglich ist, da sie so intensiv die Seele zu berühren vermag. Hierzu bedarf es eines hoch empathischen Dirigenten, der in der Lage ist, sich in dieser Gefühlswelt aufzuhalten.
Und es war schon eine Überraschung, mit welcher Steigerung hier das Hessische Staatsorchester Wiesbaden aufwartete. Zu erleben war eine schwelgerische Darbietung in bestechender Klangkultur mit wiederum beglückenden Instrumentalsoli. Yoel Gamzou verbrannte sich mit größter Hingabe in dieser Komposition. Mehr geht nicht. Ein wunderbarer Abschluss.
Ein besonderer Abend für das Hessische Staatsorchester Wiesbaden, welches in dieser Spielqualität lange nicht zu erleben war.
Dirk Schauß, 20.10.2022
Friedrich-von-Thiersch Saal, Kurhaus Wiesbaden, 19. Oktober 2022
Richard Strauss: „Don Juan“ op. 20, „Tod und Verklärung“ op. 24, TrV 158
Gustav Mahler: „Kindertotenlieder„
Johannes Martin Kränzle: „Mutationes. Memento Coronae“ (Uraufführung)
Musikalische Leitung: Yoel Gamzou
Solist: Johannes Martin Kränzle
Hessisches Staatsorchester Wiesbaden