Liebe in den Zeiten der Pandemie
Premiere am 10. September 2021
Regisseur Jan Eßinger hat das Leben und Wandeln der Figuren auf die Theaterebene gestellt, wo es auch hingehört: Ein Märchen vom sorglosen Leben, gefüllt mit Denken und Handeln, wer mit wem sich paart, mit wem betrügt, sich versöhnt, und dies im steten Wechsel, auch wenn meistens in nur wenig realisierbaren Absichten: Die einen wollen zueinander, den anderen wird es verwehrt, und noch andere werden in ihrem Vorhaben gestört. Das Bühnenbild (Marc Weeger) spiegelt in strengen geometrischen Formen den steten Wechsel der Beziehungen ohne Aussicht auf wirklich glückliche Fügung, darauf zerstückelt projiziert er zarte Rokoko-Landschaft. Einzelne Elemente wie Bausteine schweben über der Bühne und finden nicht zueinander. Nein, es wird nicht passen.
Die Sängerinnen und Sänger verkörpern weniger lebende Menschen, als vielmehr große Figuren in einem edlen Marionettenspiel, die ausgestattet sind mit menschlichen Emotionen und geführt von der Hand eines gerissenen Strippenziehers dem gesteuerten Schicksal folgen. Der Graf will Sex mit Untertanen, die Gräfin trauert um die verlorene Liebe, Susanna will den Figaro, aber die Amoren des Grafen sind auch verlockend, der klamaukeske Basilio (Nando Zickgraf) verliert seine frühere – eingebildete – Würde des Musikgelehrten, Cherubino tobt mit pubertären erotischen Hoffnungen herum und spielt mit seiner Stimme (Dorothee Bienert) auf die – irgendwann und womöglich – künftige Mannesstärke. In einer dramatischen Parallelebene führt ein Cherubin d’amore (Felix Hennig) das Spiel weiter. Mit kleinen Puppen, die den echten Darstellern, den großen Figuren en miniature nachgebildet sind, mischt er sich in die Handlung ein, streift mit seinen Engelsflügeln die großen Figuren, setzt die kleinen zusammen, reißt sie auseinander, setzt sie anders zusammen, legt sie in die Hände der großen Figuren und spielt, wie diese, mit der Liebe, der Treue und Untreue. Und da es sich um ein Spiel, ein Zuckerdrama handelt, sehen die Darsteller, also die großen Figuren auch entsprechend aus. Gekleidet in farbenfrohe Kostüme (Carl-Christian Andresen) aus teuren, edel wirkenden Stoffen, zu sparsamen aber fantasiereichen Formen drapiert, wechseln sie gegenseitig die Standorte oder bewegen sich manchmal im Kreis, als seien sie tatsächlich kostbare Marionetten auf der Drehbühne eines Jahrmarkt-Puppenspiels. Es ist nur eine sparsame, diskrete choreographische Andeutung, diese aber haftet in der Erinnerung und lässt nicht vergessen, dass es sich hier um eine Phantasiewelt handelt.
Wegen der Corona-Pandemie fand die Premiere in einem ungewohnten Rahmen statt: Im Zuschauerraum blieben viele Plätze frei, der Abstand zwischen Zuschauern war entsprechend groß, es war wie eine lockere kleine Gesellschaft unter sich, ein Glas Wein in der Hand, das man in den Zuschauerraum mitnehmen und weiter langsam genießen darf… Noch vorm Beginn der Vorstellung herrschte eine ungezwungene Stimmung einer exklusiven privaten Veranstaltung für Auserwählte.
Zu sehr elitär dies? Dass die Oper mit der Zeit immer elitärer wurde, braucht man nicht zu verheimlichen. Sie ist eine sublimierte, kostbare Art der Kunst, die nicht allen zugänglich ist, schon allein wegen der Barrieren der ästhetischen Sensibilität. Und wenn man einen solch exklusiven Schatz hat, muss man ihn besonders schützen und pflegen.
Ein Haus, ein Raum voller Menschen klingt anders als eines zu einem Drittel leer. Durch die Pandemie wurde auch der Orchestergraben erweitert, die Musiker saßen verteilt in einem nun viel tieferen Raum unter der Bühne, der Klang gewann dadurch eine räumliche Fülle, war viel voluminöser als ich es aus den vergangenen Besuchen in Erinnerung habe. – Oder ist es eine Einbildung, die aus der langen Enthaltsamkeit resultiert? Das Orchester (musikalische Leitung György Mészáros) klang im Ganzen klar und verständlich, begleitete die Phrasenlinien der Sänger ohne die für kleine Häuser gefährlich gedämmte Klangenge oder störende Aufdringlichkeit. Was jetzt zu hören war, war eine willkommene akustische Symbiose zwischen Stimmen, Instrumenten und Raumakustik.
Im ganzen Ensemble hört man die gute Vorarbeit, es klingt homogen, die Lautstärke wird mit Bedacht dosiert als konsequenter Ausdruck von Emotionen der Mitteilung – niemand versucht zu beweisen, dass sie/er besser ist, weil sie/er besser ist. Durch die körperliche Distanz auf der Bühne – Folge der Hygiene-Maßnahmen –, gewinnt die Handlung an Klarheit, die Figuren an solitärer Integrität, und der erzwungene Abstand verstärkt den Eindruck der emotionalen Nähe. Wenn Susanna und Figaro Hand in Hand als Paar die Vorderbühne langsam verlassen, schweben ihre ausgestreckten Hände frei, sie berühren sich nicht und doch spürt man, wie die Luft zwischen ihnen knistert. Es ist nur ein kleines Detail der Inszenierung, eins von vielen. Das bewirkt, dass die räumliche Distanz auf der Bühne die Illusion der Nähe voller Leidenschaft erzeugen kann. Theater pur.
Gräfin Almaviva (diese Rolle singt und spielt Emily Dorn) ist eine etwas naive, verträumte Dame, immer noch verhaftet in der Erinnerung an das romantische Liebeswerben des jungen Grafen. Sie wird in dem Marionettenspiel zu einer tragenden Figur, und auch wenn sie nicht dauernd in die laufende Handlung unmittelbar involviert ist, zeigt sie mit ihrer konsequent eingesetzten Stimme differenzierte Emotionen, mit ihrem nachdenklichen vorsichtigen Schauspiel eine unaufdringliche Anwesenheit.
Susanna (Mirella Hagen), eine zierliche Figur, zeigt Kraft, wo sie sie braucht, aus einem unschuldig harmlosen Kammermädchen wird sie zur Intrigantin, und diesen Wandel zeigt sie plausibel mit ihrer Stimme und Schauspiel. Figaro (Jakob Kunath) dagegen bleibt etwas undefiniert, bei Non più andrai…, wo er endlich seinen Frust abreagieren kann, wird er zwar handgreiflich, aber in seiner Stimme spürt man eine Unsicherheit, als überlegte er, wie weit ein Diener zu einem Rebellen werden darf.
Einige wenige Buh-Rufe für Benjamin Lewis (in der Rolle des Grafen Almaviva) beim Schlussapplaus klangen befremdet. Es mag sein, dass ein paar Operngäste in der Figur des Grafen lieber den zarten sanften Almaviva aus der Rossini-Oper immer noch sehen wollten, vielleicht hatten sie auch andere Gründe. Menschen ändern sich, Graf Almaviva ist jetzt ein widerlicher Machtmensch mit ausgeprägtem Sexualtrieb, und Benjamin Lewis spielt konsequent einen solchen, der bis zum Schluß widerlich bleibt, selbst in dem Friede-Freude-Eierkuchen-Finale nimmt ihm keiner seine Reue und Bekenntnis zu seiner Frau ab, auch sie, die Gräfin Almaviva, abserviert sein plötzliches Wandeln mit nur einem verächtlichen Achselzucken.
So wird in Detmold die Liebe und Untreue in den Zeiten der Pandemie gespielt. Und das ist gut so, für die Liebe und für das Theater.
Jan Ochalski, 18.9.2021
Bilder (c) A.T. Schäfer