Lübeck, Konzert: „Russische Klassiker“, Rachmaninow, Tschaikowski

„Muß man nach solch einem Konzert ernsthaft die Frage stellen, ob man derzeit noch russische Musik spielen oder russische Künstler auftreten lassen dürfe?“ – das stellte nach der Live-Übertragung am 5. Februar 2023 Christiane Irrgang vom NDR in den Raum. Völlig richtig, gerade jetzt muss man denjenigen russischen Stimmen Gehör verschaffen, die stets unter dem System gelitten haben und die eben in ihrer russischen Heimat nicht die sein durften, die sie sein wollten.

Tschaikowski, ein homosexueller Künstler mit ukrainischen Wurzeln, wäre im Putin-Rußland mindestens im Exil. Die Villa im ukrainischen Trostnajez, in der der Komponist 1864 wohnte, haben russische Truppen zerstört. Wäre der Diktator konsequent, würde er Tschaikowskis Musik verbieten. Rachmaninow mußte 1917 mit seiner Familie Rußland verlassen und konnte nie wieder in sein geliebtes Heimatland zurück.

Umso wichtiger ist es deswegen klarzumachen, daß Putin nicht Rußland ist, ebenso wie Willy Brandt 1938 sagte: „Hitler ist nicht Deutschland“. Und nein, dies ist kein billiger Faschisten-Vergleich, aber es geht gerade in dieser Zeit darum, nicht auf Stereotypen hereinzufallen und genau hinzusehen, wo der Feind tatsächlich steht. Oder, um Deniz Yücel zu zitieren: „Der Feind heißt Putin, nicht Puschkin, Tolstoi oder Achmatowa.“

Schon daher war das Programm dieses Konzerts am 5. und 6. Februar in der Lübecker Musik- und Kongreßhalle mit zwei echten „Klassikern“ der russischen Musikliteratur eine ganz hervorragende Wahl. Die glanzvolle Umsetzung übertraf allerdings alle Erwartungen: Es war eine echte Sternstunde, mit zwei funkelnden Sternen an einem sehr düsteren, wolkenverhangenen Himmel voller Depression und Angst.

Das Eingangsthema des 3. Klavierkonzerts von Sergei Rachmaninow ist sicher eines der berühmtesten und schönsten der Gattung überhaupt. Aber allen Mitwirkenden, dem begnadeten Pianisten Nikolai Lugansky und GMD Stefan Vladar mit dem Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck, gelang es, diesem Stück etwas im besten Sinne „Unerhörtes“ zu verleihen, mit einer Interpretation, die das so oft aufgeführte Stück mit einem neuen, individuellen Glanz überzog.

(c) Marco Borggreve

Vladar machte von Anfang an in seiner bewährten Art Tempo und vermied so ein Abgleiten in mögliche Gefälligkeit. Der intensive Kontakt zwischen Dirigent, Solist und Orchester war deutlich wahrzunehmen; manchmal stützte sich Vladar mit der linken Hand behutsam auf den Flügeldeckel, als ob er fast zärtlich eine Verbindung zwischen Klavier und dem großen Klangkörper herstellen wollte.

Lugansky spielte – selbstverständlich – auswendig seinen unfaßbar schweren Part und selten hat man gerade die schnellen Läufe mit solch halsbrecherischer Geschwindigkeit und zugleich so exakt wiedergegeben gehört. In den Kadenzen setzte er winzige Verzögerungen und kaum faßbare Pausen ein, um diesem Konzert seine eigene Prägung zu geben. Sein Spiel überzeugte insgesamt durch weitestgehende Differenziertheit; mal schlug er mit solcher Wucht auf die Tasten, daß die Töne geradezu herausschossen, mal zupfte er mit den Fingerspitzen die Klänge zart heraus. Größtmögliches Einvernehmen zwischen den Solisten verriet der Dialog mit der Flöte.

Der zweite Satz verzaubert durch seine wehmütige Beschwörung der russischen Seele; Vladar griff mit weiten Armbewegungen die intensive Darstellung der Sehnsucht förmlich heraus, als wollte er sie mit den Händen formen. Tiefer Ernst, Heimweh und Liebe spricht aus dieser Musik, von dem phantastisch spielenden Orchester in ein großes, weites Klangbild gemalt. Das Blech war hervorragend sicher und volltönend und bot ein wunderbares Gegengewicht zu den sprudelnden Kaskaden Luganskys, der sich tatsächlich zum Finale hin noch steigerte und damit auch ältere Semester im Publikum sichtbar fast von den Stühlen riß.

Kaum war der letzte Ton verklungen, nein – erstrahlt, toste auch schon der Beifall los und wollte kein Ende nehmen. Den schenkte Vladar in höflicher Zurückhaltung fast gänzlich dem Pianisten, der sich wiederum mit zwei passenden Zugaben bedankte. Erst erklang das Prélude op. 23, Nr. 7, dann eine Bearbeitung des Komponisten der Bach-Violinen-Partita in E-Dur, auch diese beiden Stücke wurden mit herzlichstem Applaus bedacht. „Das hätte ja als Glanzstück für den Abend schon gereicht“, hörte man in der Pause einen begeisterten Herrn sagen, aber es sollte noch besser, nein, tragischer kommen.

Auch Tschaikowskis 6. Symphonie, die als sein Requiem oder sein Schwanengesang bezeichnet wird, hat man schon sehr oft gehört, aber Vladar hat an diesem Abend dieses Werk, auf das der Komponist stolzer war als auf alle anderen seiner Schöpfungen, wahrhaft liebevoll umarmt. Der Dirigent ist ein echter Meister der Generalpausen, denn die strukturierten diese feinnervige Musik so klar, daß auch dadurch deutlich wurde, wieviel individueller Ausdruck in jedem einzelnen Abschnitt steckt.

(c) Jan Philip Welchering

Im ersten Satz offenbart sich die angreifbare Seele Tschaikowskis und ebendas hat Vladar in ganzer Tiefe verstanden. Tempo und Dynamik waren so sensibel differenziert, daß die psychologische Dimension dieser Musik in all ihrer Vielschichtigkeit greifbar wurde. Hinter jedem Leuchten verbirgt sich hier die Düsternis der Schwermut, kein Klangstern kann die ihn umgebende Schwärze verleugnen.

Und dann explodiert mit Wucht der Tutti-Schlag wie der knallende Faustschlag einer wütenden Schicksalsgottheit, um in einem anschließenden Zitat an die russische Totenmesse zu gemahnen. Der Satz endet in einem Meer aus Tränen.

Die luftige Leichtigkeit des zweiten Satzes ist nur ein Trugbild und die an ein befreites Frauenlachen erinnernde absteigende Stakkato-Tonfolge wirkt wie Hohn angesichts des nahen Todes. Hat der Komponist bittere Tränen während der Arbeit an dieser Symphonie vergossen, so wird in diesem Satz nicht geweint. Feine Pizzicati funkeln am Ende, bevor der dritte Satz wiederum in eine vermeintlich helle Vision entführt. Der ist ein einziges „so hätte es sein können“, mit all seinen Entwürfen eines erfolgreichen Künstlerlebens, den scheinbar unbeschwerten Höhenflügen und einer fast hysterischen Fröhlichkeit. Dieser trügerische Optimismus endet in einem offenbar triumphierenden, wirbelnden Finale und ja, das hätte das Ende dieser Symphonie sein können. Vorschnelle Klatscher belehrte Vladar eines Besseren, indem er sofort in die Streicher griff, und mit vollem Körpereinsatz all der Verzweiflung und Bekenntnis der Unmöglichkeit, glücklich zu sein, ergreifend Ausdruck gab. Die Klarinette klagte wunderbar seelenvoll, die gedämpfte Trompete und das Tamtam machten bald klar, daß das Ende nahe ist und das kommt eben nicht mit Pauken und Trompeten. Gustav Mahler hat das ebenso verstanden und später mit den gleichen Mitteln umgesetzt. Celli und Bässe beenden dieses tieftraurige Bekenntnis zu den Grenzen des Lebens und all seiner Hoffnungen, sanft, leise und endgültig.

Vladar hat in einem Interview zu diesem Konzert gesagt, der Rachmaninow ginge ihm ans Herz und der Tschaikowski versetze ihm einen Stich in dieses. Bestimmt 20 Sekunden lang hielt er inne, bevor er die Arme sinken ließ, sichtlich erschüttert. Nur langsam konnte sich das bewegte Publikum zum befreienden Beifall sammeln, der dann immer lauter wurde. Vladar war minutenlang kreidebleich und ihm gilt nicht nur ein besonders begeistertes „Bravo!“, sondern auch eine freundschaftliche Umarmung.

Tschaikowski starb kurz nach der Vollendung dieses Abschiedswerks und er hätte an diesem Abend in Lübeck auch Tränen der Dankbarkeit vergossen über soviel sensibles Verständnis für seine Musik.

„Daß wir sowas in Lübeck haben“, meinte ein älterer Herr und dem ist nichts mehr hinzuzusetzen.

Andreas Ströbl, 7. Februar 2023


Musik- und Kongreßhalle Lübeck

Sergei Rachmaninow: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3 d-Moll op. 30

Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Symphonie Nr. 6 h-Moll op. 74 („Pathétique“)

Musikalische Leitung: Stefan Vladar

Klavier: Nikolai Lugansky

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck