Die erste Wiederaufnahme war bereits für den März 2020 angesetzt. Mitten in die Proben platzte der Corona-Lockdown. Weitere fünf Jahre hat es gedauert, bis die Oper Frankfurt sich erneut den enormen Herausforderungen dieser außergewöhnlichen Produktion gestellt hat. Für das Orchester und die Chorkollektive ist es nach acht Jahren faktisch eine Neueinstudierung, die glänzend gelungen ist. Wieder hat man für die Partie der Jeanne d’Arc die Schauspielerin Johanna Wokalek gewinnen können – eine Idealbesetzung. Sie hat mit Ausnahme einer kurzen Zeile aus einem Volkslied gegen Ende zwar nichts zu singen, dafür umso mehr Sprechtext zu bewältigen. Johanna Wokalek formt den Text ganz nach den Vorgaben des Komponisten in Rhythmus und Tonlage wie eine Gesangspartie, ohne das Sprechen zu verleugnen. Eine nicht nur schauspielerisch, sondern auch musikalisch herausragende Leistung. Wie diese Jeanne sich dabei verzehrt, schwärmt und leidet, geht unter die Haut. Die Intensität der Textgestaltung durchbricht sogar die Sprachbarriere, denn natürlich wird die französische Originalfassung gegeben. Man muß gar nicht durchgängig die Übertitel mitlesen, um zu verstehen, worum es geht.

Vor das Hauptwerk hat das Produktionsteam eine Vision des Jenseits gesetzt. Und zwar so, wie ein kindliches Gemüt sich den Himmel vorstellt: alles voller Wolken. Dazu entströmt dem Orchestergraben eine ätherisch schöne Musik. Sie klingt zunächst ein wenig nach Fauré, dann hört man Erinnerungen an den späten Wagner, abgeklärte Parsifal-Klänge, das alles mit französisch-duftiger Klarheit und einer Süße ohne Süßlichkeit. Ein berückendes Flötensolo findet ein Echo in weichen Horntönen. Dann setzt von Ferne ganz behutsam der Frauenchor ein. Die sonore Altstimme von Katharina Magiera kommt hinzu, dann der runde, klare Sopran von Elizabeth Reiter. Man kann sich in diesen ersten Minuten gar nicht satt hören an Debussys früher Kantate La damoiselle élue. Es geht um eine jung Verstorbene, die aus dem Himmel herab auf ihren schlafenden Geliebten blickt und sich wünscht, mit ihm im Jenseits vereint zu sein. Dieses Herabblicken aus dem Himmel hat Bühnenbildner Alfons Flores wörtlich genommen. Eine transparente Plattform teilt auf halber Höhe die Bühne. Von dort schaut die Verstorbene mit güldenem Gewand und blond gelocktem Haar auf die Erde herab. Sie ist „élue“, auserwählt, eine Selige kurz vor der Verklärung zur Heiligen. Natürlich schrammt dieses Bild hart am Kitsch vorbei. Aber man darf es zusammen mit der Musik genießen. Das Produktionsteam von „La Fura dels Baus“ um Regisseur Àlex Ollé verkneift sich sogar jede ironische Brechung der Eingangsszene. Ihm geht es um den Kontrast zum Hauptteil des Abends.

Nach einer guten Viertelstunde ist die Vision des Jenseits zu Ende und geht unter bedrohlichem Donnergrummeln bruchlos in das Hauptwerk über: Arthur Honeggers Johanna auf dem Scheiterhaufen. In der unteren Hälfte des Bühnenbildes wird es nun deftig. Das Volk erscheint als roher Mob, angetan mit dreckigen Lumpen – oberhalb der Gürtellinie. Darunter baumelt bei den Männern das freihängende Gemächt. Die heilige Johanna steht bereits erhöht auf dem Scheiterhaufen und blickt in einzelnen Visionen auf ihr Leben zurück. Der heilige Dominikus, den der belgische Schauspieler Sébastien Dutrieux unpathetisch nüchtern gibt, erscheint aus dem Jenseits und liest ihr aus einem Buch ihre eigene Lebensgeschichte vor. Den Prozeß zu ihrer Verurteilung erlebt sie zur Groteske verzerrt mit einem Schwein als Richter, einem Esel als Schreiber und blökenden Schafen als Beisitzer. Die Unausweichlichkeit ihrer Verurteilung wird symbolisch dargestellt durch ein albtraumhaft-absurdes Kartenspiel, bei dem immer nur sie verliert. Der Moment ihres größten Triumphes, der Einzug des Königs in der Krönungsstadt Reims, erscheint in einer weiteren Rückblende. Sie hört noch einmal die Stimmen der Heiligen Margaretha und Katharina, bis schließlich unter dem Grölen der Menge der Scheiterhaufen entzündet wird.

Das Produktionsteam zeigt diese Szenen kontrastreich und mit jeweils neuen Bilderfindungen. Das entspricht genau der Intention des Komponisten, der jedes Bild mit einer eigenen Klangsprache unterlegt hat, mal expressionistisch, mal neobarock, hier unter Verwendung von gregorianischen Chorälen und Kirchentonarten, da unter Zitierung von Volksliedern. Der faszinierend changierende Orchestersatz ist an passenden Stellen mit der Klangfarbe eines Saxophons und recht dezent mit dem Gesang der Ondes martenot angereichert. Wie schon in dem wunderbar leuchtenden Vorspiel mit Debussy gelingt dem Opernorchester unter der Leitung von Titus Engel eine rundum überzeugende Umsetzung der komplexen Partitur. Fabelhaft bewältigen auch Chor wie Kinderchor ihre anspruchsvollen Aufgaben. Sie sind singend und skandierend im Dauereinsatz. Neben der Titelpartie spielen sie als Kollektiv die zweite Hauptrolle. Einzelne Choristen dürfen sich zudem in Nebenrollen profilieren und fügen sich mit großer Spielfreude in das Solistenensemble ein, das neben erneuten Einsätzen von Elizabeth Reiter und Katharina Magiera (die Heiligen Margarethe und Katharina) Peter Marshs markanten Tenor als Porcus, Herold und Kleriker, Kihwan Sims kernigen Baßbariton als Stimme und Herold sowie Idil Kutays glockenhellen Sopran als Jungfrau Maria aufbietet.

Die kräftigen und mitunter drastischen Szenen sind in einer dystopischen, nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt. Die Gegenwart ist darin in ein „neues Mittelalter“ umgekippt, wie Regisseur Ollé es in Anlehnung an Umberto Eco bezeichnet. Irgendeine Katastrophe muß unsere hochtechnisierte Welt verheert haben. Man haust in den Ruinen einer schrundigen Technikwüste. Das Volk ist verlumpt und emotional verroht. Darüber bleibt die Sehnsuchtsebene eines Jenseits erhalten, die folgerichtig im mittelalterlichen Gewand erscheint, eben mit Wolkendunst und Rauschgoldengeln. Mit dieser Haltung gelingt dem Produktionsteam eine zwingende Verbindung des präraffaelitischen, also das Spätmittelalter zum Vorbild nehmenden, Textes von Dante Gabriel Rossetti für die Debussy-Kantate mit dem katholischen Symbolismus des von Paul Claudel erstellten Librettos für Honeggers dramatisches Oratorium. Das Spektakuläre, das Produktionen von La Fura dels Baus üblicherweise auszeichnet und das auch hier für eine sich geradezu körperlich mitteilende Emotionalität sorgt, wirkt gar nicht oberflächlich auf äußere Effekte bezogen, sondern werkimmanent. Das Spektakel hat gedankliche Tiefe. Die szenische Leitung der Wiederaufnahme liegt in den bewährten Händen von Hans Walter Richter, der in Frankfurt schon mehrfach mit eigenen Inszenierungen hervorgetreten ist und nun bei der Rekonstruktion einer fremden Regiehandschrift ganze Arbeit geleistet hat.

Visuell kontrastreich, darstellerisch intensiv und musikalisch stark präsentiert sich die Wiederaufnahme dieser außergewöhnlichen Kombination zweier selten gespielter Meisterwerke. Nur noch vier Folgevorstellungen sind vorgesehen, eine weitere Wiederaufnahme soll es nicht geben. Wir können einen Besuch dieser Produktion, die mit rund 100 Minuten gerade einmal Spielfilmlänge hat, allen Freunden prallen Musiktheaters wärmstens empfehlen.
Michael Demel, 22. Juni 2025
La damoiselle élue
Poème lyrique von Claude Debussy
Jeanne d’Arc au bûcher
Dramatisches Oratorium von Arthur Honegger
Oper Frankfurt
Wiederaufnahme am 21. Juni 2025
Premiere am 11. Juni 2017
Inszenierung: Àlex Ollé
Musikalische Leitung: Titus Engel
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Weitere Vorstellungen am 27. und 29. Juni sowie am 3. und 5. Juli 2025.