Frankfurt: „Le Grand Macabre“, György Ligeti

Regisseur Vasily Barkhatov nimmt im Programmheft zu dieser Neuproduktion kein Blatt vor den Mund: Das Libretto zu György Ligetis einziger Oper Le Grand Macabre sei „eher schlecht gealtert“. Und da muss man ihm recht geben: Die Anspielungen auf Theaterkonventionen und politische Hintergründe der 1970er Jahre sind einem heutigen Publikum unverständlich und – ehrlich gesagt – auch irrelevant, vor allem aber wirkt der durchgehend drastisch-zotige Humor mitunter aufgesetzt und altherrenhaft. Deswegen unterzieht Barkhatov das Stück einer Frischzellenkur, indem er entgegen den Absichten der Urheber eine klare zeitliche Verortung vornimmt und den im Libretto comic-artig eindimensional gezeichneten Figuren eine Biographie gibt. Aus Ligetis „Anti-Anti-Oper“ wird einfach nur: eine Oper. Das tut der Aufführung gut und bereitet dem Publikum einen kurzweiligen und unterhaltsamen Abend.

Die eigentliche Handlung geht so: Auf einem Friedhof entsteigt aus einem Grab Nekrotzar und verkündet den Weltuntergang, den er selbst durch einen Kometeneinschlag herbeiführen will. Ein Liebespaar nimmt das zum Anlaß, das freigewordene Grab für ausgiebigen Sex zu nutzen. Nekrotzar findet auf dem Weg zum Palast des Fürsten Go-Go den Säufer Piet vom Faß und den von seiner Frau mit sadistischen Sexspielen gequälten Hofastrologen Astradamors als Weggefährten. Im Palast verkündet er das Ende der Welt, besäuft sich aber derart, daß er zum vorgesehenen Zeitpunkt nicht mehr in der Lage ist, das Zerstörungswerk zu vollbringen. Das Ganze spielt in „Breughelland“, einem fiktiven und grotesk verzerrten Pseudo-Mittelalter.

© Barbara Aumüller

Barkhatov übersetzt den 70er-Jahre Anarcho-Humor in eine heutige Bildsprache, oder besser: in die heute noch präsente Bildsprache der späten 1990er-Jahre mit ihren apokalyptischen Kino-Blockbustern (Armageddon, Deep Impact, Independence Day) und ihren grob gepixelten Computerspielen. Noch vor dem ersten Ton werden Nachrichtensendungen aus aller Welt auf den Bühnenvorhang projiziert, in denen die Sprecher mit perfekt-glattem Service-Lächeln vom bevorstehenden Einschlag eines Kometen um Mitternacht berichten. Dann erst setzt Ligetis fanfarenartige Ouvertüre ein, die von zwölf Autohupen gespielt wird. Dazu hebt sich der Vorhang und zeigt eine Highway-Auffahrt, auf der sich zahlreiche Autos stauen. Das ist ein Hollywoodfilm-Zitat: Wann immer eine große Katastrophe bevorsteht, setzen sich die Leute panikartig in ihre Fahrzeuge, versuchen sinnloserweise irgendwohin zu fliehen, und stehen anschließend ineinander verkeilt im Stau. Auf einer Werbetafel am rechten Bühnenrand werden dazu die Protagonisten vorgestellt: Piet vom Faß wird als Weinhändler eingeführt, der in einem Hotelzimmer von der Untergangsnachricht überrascht wird und jetzt auf der übereilten Flucht, nur mit Unterhose und Bademantel bekleidet, in einem Taxi im Verkehrschaos steckengeblieben ist. Dort steckt auch der Nekrotzar mit seinem Leichenwagen fest. Der Bestatter verfaßt in seiner Freizeit wüste Weltuntergangsprosa und findet als Prophet der Apokalypse die Rolle seines Lebens. Das Liebespaar Amando und Amanda erfährt frisch operiert in einer Schönheitsklinik von der Untergangsnachricht und will es vorher nochmal so richtig treiben, in Ermangelung anderer Orte nun in einem Sarg des Bestatters. Der Astrologe Astradamors probiert im Angesicht des Weltendes mit seiner Frau halluzinogene Drogen aus. Der „Royal Palace“ des Fürsten schließlich ist ein Club, in dem die Gäste in historischen Kostümen eine ausgelassene Endzeit-Party feiern. Der Fürst tritt passend zu seiner Stimmlage als Countertenor nach dem Vorbild des Filmes Farinelli in einem üppigen roten Barockkostüm samt Kopfschmuck auf und wird auf dem Cembalo von einem Elton-John-Double begleitet.

© Barbara Aumüller

Das alles bleibt in den aufwändigen Bühnenbildern von Zinovy Margolin und den opulenten und phantasievollen Kostümen von Olga Shaishmelashvili schräg, grotesk und überdreht. Aber das Stück verliert durch die Verortung die Willkür und auch Beliebigkeit, mit der das Libretto von einem absurden szenischen Einfall zum nächsten springt, und gewinnt eine von seinen Schöpfern nicht beabsichtigte Struktur und sogar Stringenz. Man kann sagen: Das Produktionsteam rettet das Stück vor sich selbst und entdeckt es bühnenwirksam neu. In dem gewählten Setting wird ein Feuerwerk an Einfällen abgefackelt, das die Zuschauer bestens unterhält. Dabei wird auch die ernsthafte Botschaft des Werkes verschoben. Stand für Ligeti die Warnung vor falschen Propheten im Vordergrund, so führt Barkhatov eine soziologische Versuchsanordnung an mehreren Beispielen durch: Wie verhalten sich Menschen, wenn sie zu einem nahen Termin das Ende vor Augen haben, und wie können sie im Bewußtsein ihres Verhaltens in dieser Ausnahmesituation weiterleben, wenn das Ende ausbleibt?

So sehr die Inszenierung die Absichten oder die dadaistische Absichtslosigkeit des Librettos unterläuft, so sehr lauscht sie auf die Musik. Der Klang wird in mitunter naheliegende, mitunter überraschende, aber sinnfällige Bilder und Interaktionen umgesetzt. Immer wieder führt das zum „Micky-Mousing“, der Eins-zu-eins-Entsprechung von Musik und Aktion. Gelegentlich folgt die Szene auch assoziativ den Klängen, so zu Beginn, wenn wie beschrieben die Autohupenfanfare mit einem Verkehrschaos auf einer Autobahnzufahrt illustriert wird, oder wenn zu Ligetis sphärischen Cluster-Klängen in Erinnerung an Stanley Kubricks Verwendung von Ligeti-Clustern in 2001 auf einer Videoprojektion eine Weltraumfahrt durch einen funkelnden Sternenhimmel aufscheint.

Simon Neal (Nekrotzar; in grünem Umhang) und Alfred Reiter (Astradamors; rechts daneben) / © Barbara Aumüller

Die Sänger setzen das Regiekonzept darstellerisch bravourös um. Simon Neal steigert sich als Nekrotzar lustvoll in die Rolle des Untergangspropheten hinein und gibt ihm mit heldenbaritonaler Kraft bei seiner grotesken Anmaßung die nötige Fallhöhe. Peter Marsh profiliert mit schneidend hellem Tenor den Säufer Piet. Alfred Reiter überzeugt mit vorzüglicher Diktion als Astrodamors im Drogenrausch. Claire Barnett-Jones als seine Frau Mescalina zeigt mit klangsattem Mezzo, wer in dieser Ehe die Hosen anhat. Anna Nekhames wird zunächst als Leiche mitgeschleift, erwacht dann als Venus musikalisch zum Leben und brilliert schließlich als Chef der Geheimpolizei mit akrobatischen Koloraturkunststücken, die einem ob ihrer technischen Makellosigkeit den Atem rauben, gleichzeitig aber in ihrer dadaistischen Absurdität urkomisch wirken. In vokaler Hinsicht ist das eine der Leistungen, die sich einprägen. Eine andere liefert Eric Jurenas als Fürst Go-Go mit seinem klaren und attraktiv timbrierten Countertenor. Herausragend ist auch das Liebespaar Amanda/Amando in der Besetzung mit Elisabeth Reiter und Karolina Makuła.

Eric Jurenas (Fürst Go-Go) und Ensemble / © Barbara Aumüller

Der neue Generalmusikdirektor Thomas Guggeis profiliert sich nach dem Einstand mit Mozart und Verdi nun auch mit zeitgenössischer Musik. Angesichts der überreichen und vor Einfällen sprudelnden szenischen Umsetzung ist diese Aufgabe ein wenig undankbar, wird doch Ligetis wilder Mix aus unterschiedlichen Stilen, Eigen- und Fremdzitaten nicht selten auf die Wirkung eines Soundtracks zurückgedrängt. Dieser Soundtrack immerhin ist suggestiv und verbindet sich mit der Szene durchgehend zur selbstverständlichen Einheit. Damit präsentiert Guggeis die elaborierte Partitur als wirkungsvolle Theatermusik und beglaubigt zugleich den Regieansatz.

Diese in allen Bereichen glänzend gelungene Produktion hat einen Weg gefunden, ein vielschichtiges und hochkomplexes Werk so zu präsentieren, daß das Publikum einen unmittelbaren Zugang findet und dabei niveauvoll unterhalten wird.

Michael Demel, 8. November 2023


Le Grand Macabre
György Ligeti

Oper Frankfurt

Premiere am 5. November 2023

Inszenierung: Vasily Barkhatov
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester

Trailer