Kann man Wagners Parsifal ohne Berücksichtigung des religiösen Fundaments inszenieren? Läßt sich das von Wagner so betitelte „Bühnenweihfestspiel“ entmythologisieren, ohne daß zentrale Inhalte verlorengehen? Wenn man Kammersängerin Brigitte Fassbaender als Regisseurin gewinnen kann, dann funktioniert auch das!

Zunächst bar jeder sakraler Symbole versammelt sich eine Gesellschaft von dunkel und uniform gekleideten Herren samt straff erzogener Jugendorganisation in einer Art Felsenkeller mit perspektivisch den Blick zum Bühnenhintergrund leitenden Wänden. Dort gibt es nur eine Reproduktion von Claude Monets „Seine-Arm bei Giverny“, kein echtes Fenster nach draußen. Man hat sich in einer Art Höhlen-Existenz eingerichtet, das Personal wirkt wie die Staffage eines Kollektivs ohne wahre Mission.
Auf Fassaden sei in dieser Inszenierung mit Bühnenbild und Kostümen von Johannes Leiacker besonderes Augenmerk gerichtet, erläuterte Dramaturg Konrad Kuhn in der Einführung vor der Premiere am 18. Mai 2025 im Foyer der Oper Frankfurt, und tatsächlich erscheinen zahlreiche der 33 Variationen von Monets „Kathedrale von Rouen“, die sich in Licht und Farbgebung unterscheiden, jeweils auf eine Leinwand projiziert vor den Aufzügen. Den Impressionisten interessierte in der Tat die Fassade des Gotteshauses zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, nicht der religiöse Gehalt. „Ich möchte wiedergeben, was ich vor dem Motiv empfinde“, erläuterte der Maler. Dem war das Westportal als Projektionsfläche von Licht und Farbe also genug und wer den Frankfurter Parsifal ansieht, muß sich also fragen, was denn hinter der Fassade steckt.
Schwenk zurück auf die zentralen Wagner´schen Inhalte des Parsifal – hier geht es um Erlösung und Mitleid. Das ist ebensogut christlich wie buddhistisch-hinduistisch oder Schopenhauerisch und damit diffus Wagner-religiös. Zudem haben die Gemälde eine Art von strukturierender Leitmotivik, aber es geht bewußt nicht in die Tiefe oder ein das Heilige bergende „Dahinter“. Dem entsprechend erscheinen die ursprünglich im hohen Dienste versammelten Gralsritter als Fassadenfiguren wie die Statuen an einer gotischen Kathedrale, die ohne die ursprüngliche Farbfassung zu aussagelosen Relikten einer einstmals großen Vergangenheit geworden sind.

Nahezu alle typischen Versatzstücke, Requisiten und religiösen Rituale, die man in einem Parsifal erwartet, sind hier gestrichen. Aus dem toten Schwan hat sich Parsifal bereits wie ein übermütiger Jugendlicher eine 70er-Jahre-Trophäen-Jacke gemacht, anstatt der Hostie gibt es Brezeln wie zu jeder Opern- oder Konzertpause, und das den bösen Klingsor bannende Kreuzzeichen ist einem knappen asiatischen Gruß in den Zuschauerraum mit aneinandergelegten Händen gewichen. Dafür erhebt sich in einer Felsennische im Versammlungsraum der Gralsrunde ein protziger Riesen-Gral in der überdimensionierten Größe etwa des Weihrauchfasses von Santiago de Compostela. Auch dort ist der Gottesdienst längst zur Show verkommen.
Der Raum changiert mit seinen Wandlampen, den großen Türen und eben der Felsennische zwischen Repräsentation, Gewölbe-Romantik und Spießigkeit, was sich nicht ausschließt; man denke nur an die banale Ästhetik der Reichskanzlei oder des Führerbunkers. Ach ja, da besteht ohnehin eine Assoziation, wenn Amfortas die Riege des Grals-Jungvolks abtätschelt wie seinerzeit Hitler die HJ-Abordnung kurz vor dem Zusammenbruch.
Völlig neuartig ist, daß Klingsors sonst abgeschotteter Bereich hier ein Teil des Gewölbesystems ist, denn es ist ein fast identischer Raum, nur mit der Tannhäuser-Szene aus Schloß Linderhof im Hintergrund. Damit schließt sich der assoziative Kreis, aber hier ist Vorbildung gefragt. Um sich der unromantischen Wirklichkeit der durch-industrialisierten Zeit zu entziehen, ließ sich „Märchenkönig“ Ludwig II. bekanntlich eine rückwärtsgewandte Parallelwelt nach der anderen errichten – also Zaubergrotten und künstliche Seen mit den modernsten Mitteln, Materialien und Spitzenleistungen der Technik auf dem allerneusten Stand. Soweit zu den Fassaden und den davor und dahinter wirkenden Akteuren.
Ein weiterer Bruch: Klingsors Zaubermädchen erscheinen bis auf eine leichtbekleidete Maid nicht lasziv und verführerisch, sondern als in unschuldiges Weiß gekleidete Bräute. Das Blumige in der Szene beschränkt sich auf die Girlanden an den Grottenwänden.
Musikalisch wartet der Abend mit hervorragenden Leistungen auf. Thomas Guggeis´ Dirigat ist zügig bis forsch, aber dafür kostet er die Generalpausen gerade im Vorspiel bis zur Spannungsgrenze aus. Karfreitagszauber und Verwandlung geraten sphärisch-sanft bzw. kraftvoll-dynamisch; insgesamt ist sein Wagner-Verständnis erfreulich frei von Pathos und Schwere, und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester formt eine fein austarierte, seelenvolle Parsifal-Musik. Die Gralsglocken klingen härter als in Bayreuth, aber das paßt zur illusionsfreien Deutung, was die Sakralität angeht.
Ian Koziaras Parsifal ist als Jungspund sehr kernig und fast schon zu maskulin; er überzeugt vor allem als weise gewordener Gralskönig mit sensibler Führung und bedächtiger, aber klarer Haltung. Vor allem im piano ist er sehr präsent; da zeigt sich Brigitte Fassbaenders bis ins kleinste Detail ausgefeilte Probenarbeit und ihr einzigartiges Gespür für die Kongruenz von Libretto und Partitur.

Das gilt ebenso für den brillanten Gurnemanz von Andreas Bauer Kanabas, der jeden Buchstaben und Ton würdigt, dabei aber stets authentisch und von natürlicher Dominanz bleibt. Auch er macht eine Entwicklung durch, vom Oberlehrer zum bescheidenen Diener seines neuen Herrn. Seine Parlando-Passagen geben der Rolle noch mehr Glaubwürdigkeit. Insgesamt sicher eine der Glanzleistungen dieser Produktion!
Jennifer Holloway als Kundry verfügt über einen starken Sopran mit angreifbaren Facetten; sie ist hier bewußt nicht die große Verführerin, sondern eher die verhaltensauffällige „Erlösungsbedürftigste“, wie die Regisseurin sagt; sie lacht ständig an unpassenden Stellen, was vielen im Publikum aufstößt, aber es geht hier ja gerade um diese therapiewürdige Psyche. Diese Kundry ist nicht nur Opfer; sie trägt selbst Verantwortung an ihrer Schuld – und für die Lösung aus dem Traumakomplex. Wer sich darauf einläßt, findet den Zugang.
Nicholas Brownlee spielt und singt einen ergreifend leidenden Amfortas, der aber über ausreichend Rest-Stärke verfügt, um zu zeigen, daß er immer noch Kopf der Gruppierung ist. Seine „Erbarmen“-Rufe erwecken allein beim Publikum Mitleid und Anteilnahme, die gierige Gemeinschaft verlangt nur Pflichterfüllung. Trotz der inneren und äußeren Verletzung weisen aber seine Stimme und Haltung noch die alte Größe auf.
Auch der Klingsor von Iain Macneil ist vielschichtig gestaltet; das ist nicht allein der Bösewicht und Gegenspieler der vermeintlich Guten, sondern er existiert eben in seiner eigenen Welt aus Enttäuschung und vertanem Lebensmodell. Stimmlich elegant und geschmeidig ist dieser Zauberer; dem kann man tatsächlich verfallen.
Gescheitert ist auch die Existenz von Titurel, dem Alfred Reiter vollklingende, wenn auch, rollengemäß, angeschlagene Stimme und Gestalt verleiht. Das ist kein sympathischer alter Vater, denn er stößt Amfortas barsch weg, als der sich um Nähe bemüht.
Chor und Extrachor der Oper Frankfurt unter Gerhard Polifka sind gerade in den Forte-Passagen so massiv drängend und unbarmherzig, wie vor allem die Szene zum Ende des dritten Aufzugs es verlangt. Auch die Personenregie in den mitunter aggressiven Massenszenen ist gelungen.
Daß es „menschelt“ in diesem Parsifal, las man in fast allen Besprechungen, die am Morgen nach dem Sektempfang im Gralsgewölbe, der den glücklichen Ausgang in der Frankfurter Produktion beschließt, in den Medien erschienen – meist feiernd, seltener in enttäuschtem Duktus.
Es ist ganz gut, etwas Zeit verstreichen zu lassen, um dieses Nicht-Weihfestspiel zu verstehen, denn hinter den besagten Fassaden geschehen psychologisch fein ausgeleuchtete Entwicklungen. „Gibt es überhaupt eine Klärung?“, fragt Brigitte Fassbaender im Programmheft, und vielleicht muß man, wie bei der Nach-Freud´schen Psychoanalyse nicht jedes Türchen zu den alten Wunden aufstoßen. Manches darf, solange kontrolliert, auch abgedeckt verweilen.
Erlösung aber haben hier fast alle nötig bzw. wird sie ihnen zuteil. Der herzlose Titurel und der zur Selbstverstümmelung neigende Klingsor erfährt sie jeweils durch den Tod, Parsifal darf reifen und seine Jugendsünden hinter sich lassen; Gurnemanz ist gewährt, sich zurückzuziehen. Die in den Kostümen und der Maske sichtbar versteinerte Gralsrunde kann endlich den grauen Staub abschütteln und sich dem Leben zuwenden.

Amfortas scheint vor allem dadurch geheilt, daß er nicht mehr die Bürde des Dienstes tragen muß, und endlich küßt er Kundry auf den Mund – mit Liebe und auf Augenhöhe. Es ist kein aufgesetzter Feminismus, daß Brigitte Fassbaender dieser Gestalt eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Wer durch verschiedene Inkarnationen hindurch keine Läuterung erreicht, dem hilft nur Mitleid und bewußte – hier therapeutische – Absolution. Wer genau hingehört hat, dem entging das Schluchzen im hysterischen Lachen nicht. Das eine wie andere war am Ende verstummt. Keine Taube schwebt herab in Frankfurt. Während die anderen sich mit Sekt besaufen, dürfen Amfortas und Kundry einfach aufatmen und gemeinsam…ach, wer weiß. Nicht alles muß geklärt werden.
Klar war nur eins am 18. Mai: Der stürmische Beifall des Premierenpublikums galt allen Mitwirkenden rund um die große Brigitte Fassbaender.
Andreas Ströbl, 21. Mai 2025
Parsifal
Richard Wagner
Oper Frankfurt
18. Mai 2025
Inszenierung: Brigitte Fassbaender,
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester