Traum vom Ballett
Es war ein Abend geprägt von starken Frauenpersönlichkeiten!
Beginnen wir mit Beate Vollack – es war zweifellos i h r Abend! Die 51-jährige Berlinerin ist seit der vorigen Saison Ballettdirektorin in Graz, sie hatte für Sergej Prokofjews Ballett eine eigene Choreographie geschaffen, diese mit dem Grazer Ballettensemble und der Ballettschule der Oper Graz erarbeitet und sie tanzte auch selbst die Figur der Stiefmutter, die sie schon im Jahre 2000 in der Version von John Neumeier an der Staatsoper München verkörpert hatte. Ganz anders als Neumeier, der den Tod und das Begräbnis der Mutter mit düsteren Figuren an den Anfang stellte, vermittelte uns die Choreographie von Beate Vollack den Traum vom Ballett, den Cinderella in einer Ballettschule träumt. Die Produktion beherrschen helle Bilder und Kostüme. Der Bühnen- und Kostümbildner (und frühere Balletttänzer) Dieter Eisenmann verwendete in seiner Ausstattung geschickt Ballettspiegel, um den Raum zu weiten und wohl auch um ein wenig das Märchenhaft-Irreale zu vermitteln. Die Choreographie von Beate Vollack zeigte uns eine freundlich-heitere Ballettatmosphäre – immer wieder erfrischend aufgelockert durch augenzwinkernde, geradezu romantische Ironie, vor allem im 3.Akt. Tragische Untertöne – wie sie die Dirigentin Oksana Lyniv etwa zu Recht in der Grande Valse hört – werden in der Choreographie nicht sichtbar. Beate Vollack war als Stiefmutter und strenge Ballettmeisterin eine bühnenbeherrschende, brillant gestaltete Figur – sie darf herrlich ausdrucksstark dabei ihre komödiantische Vielfalt in grotesker Koketterie austoben (wie ihr schon vor fast 20 Jahren die Münchner Kritik bescheinigte).
Die zweite prägende Frauenpersönlichkeit des Abends war die Grazer Chefdirigentin Oksana Lyniv , die ihre erste Ballettpremiere dirigierte. Mit den bestens disponierten Graz Philharmonikern lieferte sie eine farben- und facettenreiche Interpretation von Prokofjews humorvoll-skurriler, rhythmisch-pointierter Musik. Das Orchester blühte prächtig auf – fast hatte man den Eindruck, man genieße musikantisch-genußvoll die Situation, dass man diesmal auf keine Gesangsstimmen Rücksicht nehmen musste. Die Partitur birgt auch so manche kammermusikalisch subtile Stellen, in denen sich das Orchester auch solistisch eindrucksvoll bewährte. Die Musik ist nach dem Nummernprinzip aufgebaut – in bemerkenswerter, stets harmonischer Übereinstimmung zwischen Orchester und Choreographie gelangen die Übergänge zwischen den einzelnen Nummern nahtlos und immer überzeugend. Kluge Worte findet Oksana Lyniv im Programmheft mit dem Hinweis, dass die Musik während des 2.Weltkriegs entstand und nach dessen Ende im November 1945 in Moskau uraufgeführt wurde – gleichsam ein heller Kontrapunkt zum Elend des Krieges. Man weiß, dass Prokofjew sehr unter den Repressalien Stalins gelitten hatte – und dennoch schrieb er diese bezaubernde Märchenmusik. Dazu sei ein historischer Einschub gestattet:
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Prokofjew im Jahre 1953 fünfzig Minuten vor Stalin starb. Der Leichenwagen hatte den toten Prokofjew wegen der Feierlichkeiten für Stalin nicht aus der Wohnung abholen können. Daher trugen Freunde Prokofjews den Sarg selbst zum Friedhof – in Nebengassen in die entgegengesetzte Richtung zu Stalins Trauerzug! Siehe dazu einen Zeitungsbeitrag und das jeden Musikfreund erheiternde Buch Tasten, Töne und Tumulte von Rainer Schmitz.
Aber zurück zur aktuellen Ballettpremiere und zu der dritten prägenden Frauenpersönlichkeit des Abends:
Die erst 21-jährige Tschechin Lucie Horná – aus der Ballettakademie der Wiener Staatsoper hervorgegangen – war eine ideale Interpretin der Titelfigur. Sie verstand es wundervoll, sowohl das bescheiden-zurückhaltende Mädchen als auch die strahlende Ballerina zu verkörpern, ohne je manieriert-künstlich zu wirken. Der nur zwei Jahre ältere Christoph Schaller – ebenfalls von der Ballettakademie der Wiener Staatsoper kommend – war ein überzeugend-kraftvoller Prinz. Aber auch das gesamte übrige Ballett-Ensemble fiel keinesfalls ab. Stellvertretend für alle seien Miki Oliveira (Mutter), Paulio Sóvári (Vater) sowie die beiden plastisch-prägnant, aber nie übertrieben gezeichneten Stiefschwestern Stephanie Carpio und Martina Consoli genannt. Dazu war in das choreographische Konzept sehr geschickt (und pädagogisch wertvoll) die große Zahl der Kinder und Jugendlichen der Ballettschule der Oper Graz eingebunden. Das Grazer Ballettensemble hat jedenfalls mit diesem Abend ein kräftiges Zeichen seiner Leistungsfähigkeit und seines ausgewogenen Niveaus gegeben.
Im 3.Akt machte Beate Vollack wohl eine Anleihe bei der berühmten Cinderella-Choreographie von Rudolf Nurejew, der 1986 in Paris das Stück nach Hollywood verlegt hatte (hier vollständig nachzusehen). In Vollacks Version suchte der Prinz mit seinen Freunden die geheimnisvolle Ballerina in HOLLYWOOD und in BOLLYWOOD – ein geschicktes Spiel mit sich ständig neu formierenden Buchstaben – etwa zu BLOOD, WHY OLD oder zuletzt zu HOME. Das war geist- und schwungvoll gemacht und passte wunderbar zur rasenden Galopp-Musik, aber etwa auch zur indischen Orientalia-Nummer – wie überhaupt es ein besonderes Verdienst dieser Choreographie ist, sich nie vordergründig und effekthaschend vor die Musik drängen zu wollen.
Am Ende gab es großen und einhelligen Applaus für das gesamte Team – Beate Vollack war sichtlich gerührt. Das Publikum erfreute sich ganz offensichtlich daran, dass ihm diesmal keine tiefschürfende Sozialprobleme serviert wurden (das könnte man ja bei der Aschenbrödel-Geschichte sehr wohl), sondern unterhaltendes Tanz-und Musiktheater auf hohem künstlerischem Niveau!
Hermann Becke, 16. 11. 2019
Szenenfotos: Oper Graz © Ian Wahlen
Hinweise:
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15 weitere Vorstellungen bis Juni 2020 (mit teilweise wechselnden Besetzungen)
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Kurzvideo als Vorschau (1:09)