Graz: „König Roger“, Karol Szymanowski

Premiere am 14. 2. 2019

Zu empfehlende Rarität, die in jedes Operrepertoire gehört!

Wer unter den Opernfreunden hatte schon die Gelegenheit, eine szenische Aufführung dieses zentralen Werkes von Karol Szymanowski (1882 – 1937) zu erleben?? Ich jedenfalls bisher nicht – und so freute ich mich, dass Intendantin Nora Schmid und ihr Team das Werk als Grazer Erstaufführung und wohl auch zum ersten Male auf die Bühne eines der österreichischen Repertoirehäuser gebracht hatten. Denn soweit ich das überblicke, gab es in Österreich bisher nur eine konzertante Aufführung bei den Salzburger Festspielen unter Simon Rattle im Jahre 1998 und eine szenische Produktion bei den Bregenzer Festspielen im Sommer 2009. Das außerhalb von Polen nur selten gespielte Werk ist bei der Universal Edition verlegt – und hier kann man folgenden Einführungstext lesen, der einen guten Überblick über das Werk gibt:

Auf seinen Reisen nach Italien und Nord-Afrika in den Jahren 1908 bis 1914 war Szymanowski der Faszination dieser Länder erlegen und hatte reichlich Material gesammelt, das in Krol Roger seinen Niederschlag fand. Seiner Gattung nach steht die Oper im geheimnisvollen „Niemandsland“ zwischen Oper, Oratorium und Mysterienspiel. In den drei Akten der Oper hat Szymanowski – zum Teil nach authentischem Musikmaterial – drei unterschiedliche Kulturkreise eingefangen: den Byzantismus, den arabisch-indischen Orient und die griechisch-römische Antike. Die Handlung selbst wurzelt in Euripides’ „Bacchantinnen“ und schildert in drei oratorienhaften Tableaux den Kampf zwischen Apollo und Dionysos, zwischen dem Intellekt und dem Unbewussten, zwischen der christlichen Kirche im mittelalterlichen Sizilien und einem heidnischen Glauben.

Dieser Verlagstext verschweigt eine entscheidende Komponente in Szymanowskis Leben, die zum Werkverständnis unerlässlich ist. Dazu sei aus einem Artikel von Zeit-Online zitiert:

Szymanowskis 1926 uraufgeführtes Hauptwerk ist die Oper Król Roger (König Roger), sie kreist um den entscheidenden Konflikt in seinem Leben. Erstmals klang der in seinem 1918 geschriebenen, stark homoerotisch gefärbten Roman Ephebos an: Zeitlebens schwankte der homosexuelle Szymanowski zwischen gesellschaftlicher Konvention und trunkener Selbstentgrenzung, zwischen christlich dogmatischer Askese und dionysischem Freiheitsrausch. Nach mehreren Afrika- und Italienreisen hatte sich Sizilien als Schnittstelle zwischen den Kulturen zum utopischen Fluchtpunkt seiner geistigen wie erotischen Sehnsüchte entwickelt, auch dies lässt sich bei Rubinstein nachlesen (der Pianist Artur Rubinstein war ein lebenslanger Freund von Szymanowski): »Karol hatte sich verändert als er aus Italien zurückkam Er schwärmte von Sizilien, insbesondere Taormina hatte es ihm angetan -„Ich habe dort junge Männer baden gesehen, die sehr wohl Modell für den Adonis hätten stehen können, und ich konnte einfach meine Blicke nicht losreißen. Er war nun manifest homosexuell und eröffnete mir das auch mit funkelnden Augen.“ Auf Sizilien spielt denn auch Król Roger: Ein geheimnisvoller Hirte predigt den unbedingten Glauben an Freiheit, Schönheit und Liebe und bringt damit die starren gesellschaftlichen Normen am Hof des mittelalterlichen Normannenkönigs Roger zum Einsturz. Rogers Frau Roxane erliegt den Heilsversprechen des Hirten, der kein anderer als Dionysos ist. Auch der König fühlt sich stark zu dem Hirten hingezogen, verweigert sich jedoch im grandiosen, in den Ruinen eines antiken Theaters angesiedelten Schlussbild der dionysischen Irrationalität und entscheidet sich stattdessen für die lichtdurchflutete Welt Apolls. Szymanowskis neunzigminütige handlungsarme Oper lebt ganz aus der Musik von den archaischen modalen Harmonien des byzantinischen Kirchenchores zu Beginn über die sinnlich schillernden Vokalisen der Roxane bis zu den gleißend hochschießenden Schlusstakten der finalen Sonnenanbetung. Mit ihnen stürmt Szymanowski ins Offene einer utopischen Freiheit, in deren Nähe er im richtigen Leben nie kam.

Für die Rezeption des Werks von Szymanowski ist es auch hilfreich, auf die Entstehungszeit zu schauen: Die Zwischenkriegszeit war zweifellos eine Hoch-Zeit der Oper. Man vergegenwärtige sich, welch buntes Spektrum von Opern damals europaweit innerhalb eines einzigen Jahres uraufgeführt wurde: 14.12.1925 – Wozzeck in Berlin, 25.4.1926 – Turandot in Mailand, 7.5.1926 – Orpheus von Milhaud in Brüssel, 19.6.1926 – König Roger in Warschau, 16.10.1926 – Harry Janos in Budapest, 9.11.1926 – Cardillac in Dresden, 27.11.1926 – Orpheus und Eurydike von Krenek in Kassel, 18.12.1926 – Sache Makropoulos in Brünn. Und das sind nur jene Werke, die auch heute noch gespielt werden! Daneben gab es in diesem Jahr eine Reihe weiterer Opern-Uraufführungen u.a. von Siegfried Wagner, Francesco Malipiero, Arthur Honegger.Was wird wohl in 100 Jahren von den 2018/19 uraufgeführten Opern bestehen??

Das szenische Team Holger Müller-Brandes (Inszenierung), Katrin Lea Tag (Bühne und Kostüme, letztere gemeinsam mit Lejla Ganic) hatte als dunkel-düsteres Einheitsbild für alle drei Akte des 75-Minuten Werkes einen kahlen, schräg-ansteigenden Boden auf die Bühne gestellt und offenbar als bewussten Kontrast zur „sinnlich, dunstig, schwül“ apostrophierten Musik des „Klang-Erotomanen“ Szymanowski eine herb-spröde Bilder- und Bewegungssprache gewählt. Die im Verlagstext genannten drei unterschiedlichen Kulturkreise wurden ebenso wenig erlebbar wie der Byzantismus, der arabisch-indische Orient und die griechisch-römische Antike. Die Figuren waren alle in das heute bei so vielen Inszenierungen bevorzugte einheitliche Schwarz gekleidet. König und Hirte im schwarzen Anzug – wohl andeutend, dass beide Teil seien eines modernen Individuums vor dem Hintergrund zerfallender Ideologien und Wertesysteme (so der Regisseur im Programmheft). Und dazu kommt, dass sich alles überwiegend auf dem Boden liegend und kriechend abspielt. Also: das Ganze war eher eine (Selbst-)Darstellung der Überlegungen des szenischen Teams und keine Auseinandersetzung mit der im Libretto und in der Musik vorgegebenen Bilderpracht. Besonders trübsinnig der 3.Akt: anstelle des lichtdurchfluteten sizilianischen Amphitheaters ist die Bühnenschräge mit schmutzigem Erdreich bedeckt, in dem zu Beginn alle reglos liegen und in dem König Roger zunächst begraben wird, bevor er dann gleichsam sinnbildlich aufersteht und am Ende in Richtung Publikum schreitet, während im Hintergrund alle anderen sich eher unbeachtet in einen Sonnenuntergang hineinbewegen.

Die Bühnenschräge hatte in der Probenzeit ein Opfer gefordert: Das als Premierenbesetzung für die Titelrolle vorgesehene und geschätzte Mitglied des Grazer Opernensembles Markus Butter stolperte und musste sich danach einer Meniskusoperation unterziehen. Er wird erst ab der dritten Vorstellung wieder auftreten und dann sein Rollendebut geben können. Für die Premiere konnte als Einspringer der 46-jährige deutschen Bariton Kay Stiefermann gewonnen werden, der diese Partie bereits 2014 in Wuppertal erfolgreich gestaltet hatte. Stiefermann (in diesem Sommer Bayreuths Biterolf unter Valery Gergiev) hatte man schon im Jahre 2006 in Graz in Zar und Zimmermann erlebt. Für mich hat sich der Eindruck bestätigt, den ich damals hatte: „eine deutsch-solide und gut artikulierende Stimme, aber ohne Schmelz“. Mit seiner kräftigen Stimme konnte er sich gebührend gegen die Orchesterfluten behaupten und gestaltete die Partie im Sinne des vorgegebenen Regiekonzepts überzeugend: keine königliche Figur, sondern ein an sich zweifelnder und in seinen Gefühlen zerrissener Mensch. Ein netter Zufall fügte es, dass sein Berater Edrisi das langjährige Ensemblemitglied Manuel von Senden ist, der damals beim erwähnten Zar und Zimmermann der Peter Iwanow war. Manuel von Senden lieferte neuerlich eine überzeugende Charakterstudie mit prägnanter Stimme. Die wichtige Rolle des Hirten war mit dem 37-jährige polnischen Tenor Andrzej Lampert besetzt, der bisher seine Karriere in Polen machte (Lenski, Alfredo, Nemorino, Rodolfo, Roméo). Man lernte eine hell-timbrierte, technisch sicher geführte Stimme kennen, die die anspruchsvolle Rolle ausgezeichnet bewältigte. Übrigens kann man seinen großen polnischen Kollegen Piotr Beczała in einer von der Kritik sehr gelobten Gesamtaufnahme des König Roger hören – hier der link dazu samt Hörproben. Die zentrale Frauenfigur der Roxane gestaltete die rumänische Sopranistin Aurelia Florian , die man zur Saison-Eröffnung in Graz als Nedda erlebt hatte. Mit ihrem warm-timbrierten und höhensicheren Sopran, der auch das nötige Volumen hat, war sie für mich eine Idealbesetzung dieser expressiven Partie – wunderbar gelangen ihr die arabisch-türkischen Melismen zu Beginn des 2. Aktes und man war froh, dass sie im dritten Akt stimmlich und optisch etwas Helle in die albtraumhaft-trübe Szenerie bringen durfte.

Wie zuletzt immer bei den Grazer Produktionen waren auch diesmal die kleinen Soloaufgaben sehr gut besetzt. Wilfried Zelinka war ein Autorität vermittelnder Erzbischof und die beiden Chorsolisten Marijana Grabovac als Diakonissin und der Tenor Markus Murke waren prägnante Figuren. Chor, Extrachor & Singschul‘ der Oper (Leitung: Bernhard Schneider und Andrea Fournier) – natürlich auch sie alle im ermüdenden Einheitsschwarz! – machten ihre Sache sehr gut und sorgten speziell im ersten Akt für den nötigen, geradezu bedrohlich-mächtigen byzantinischen Chorklang.

Die Choreographie, die in dieser Inszenierung eine gewichtige Rolle spielt, stammt von der in dieser Saison neuen Grazer Ballettdirektorin Beate Vollack, die schon an der Bregenzer Festspielproduktion mitgewirkt hatte. Die 16 Tänzerinnen und Tänzer des Grazer Opernballetts waren wohl so etwas wie furienhafte, bedrohliche Gestalten des Unterbewussten – im Text ist ja einmal von „blutigen Träumen“ die Rede. Natürlich erlebte man auch im 2. Akt entsprechend dem Gesamtkonzept nicht den vorgesehenen trunken-dionysischen Freudentanz, sondern eher konvulsivische Bodengymnastik – die allerdings war durchaus eindrucksvoll.

Die musikalische Gesamtleitung lag bei Roland Kluttig , der ab 2020/21 der neue Grazer Chefdirigent sein wird. Dazu die Pressemeldung: Ab der Saison 2020/21 wird Roland Kluttig für drei Spielzeiten als neuer Chefdirigent der Grazer Philharmoniker und der Oper Graz wirken, analog zur Laufzeit des Vertrages von Nora Schmid. Roland Kluttig ist seit 2010 Generalmusikdirektor am Landestheater Coburg und hat dort mit Produktionen wie „Lohengrin“, „Parsifal“, „Fidelio“, aber auch mit der Stuttgarter „Salome“ in der Inszenierung von Kirill Serebrennikov international für Furore gesorgt. Roland Kluttig hatte zuletzt in Graz schon bei einer anderen Rarität überzeugt: bei Ariane et Barbe-Bleue von Paul Dukas. Auch diesmal erwies er sich als ein klug-disponierender Dirigent mit klarer Zeichengebung,der einerseits die Klangfluten Szymanowskis strömen ließ und andererseits doch nicht die Solisten zudeckte. Die Grazer Philharmoniker in großer Besetzung waren in sehr guter Abendfassung und ließen auch schöne Soli, etwa bei den Holzbläsern, hören. Der musikalische Teil der Produktion versöhnte mit der spröden und für mich nicht werkgerechten Inszenierung. Das Publikum im leider nur schütter besetzten Grazer Opernhaus spendete am Ende allen Ausführenden und dem Regieteam lautstarken, allerdings auffallend kurzen Applaus. Wie auch immer man zu der Inszenierung stehen mag: das Werk und seine sehr gute musikalische Umsetzung sollten sich die Opernfreunde aus nah und fern keinesfalls entgehen lassen!

Hermann Becke, 15. 2. 2019

Szenenfotos: Oper Graz, © Werner Kmetitsch

Hinweise:

11 weitere Aufführungen der Grazer Produktion bis Mai 2019 – schon wegen des selten aufgeführten, hochinteressanten Werks: unbedingt besuchen!

Nächste Aufführungen von König Roger in Europa: am 16. März 2019 in Stockholm und am 2. Juni 2019 in Frankfurt

Und ein spezieller TV-Hinweis: Nora Schmid, Intendantin der Oper Graz, wird in der TV-Dokumentation "Ich bin hier die Bossin" neben fünf weiteren österreichischen Frauen in Führungspositionen portraitiert – zu sehen am Sonntag, 17. Februar 2019, 23.05 Uhr, ORF 2. Das TV-Team begleitete Nora Schmid bei ihrer Arbeit in der Oper Graz und bat sie zum Gespräch. Näheres: https://tv.orf.at/program/orf2/20190217/892360401/story

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