Premiere: 10.11.2019
Feminismus im Schlachthaus
Bizets Carmen gehört wohl zu den schillerndsten Opernfiguren, die sich einen dauerhaften Platz im Repertoire der Häuser gesichert haben. Inszenierungen, die aus dem Werk eine pseudo-spanische Folkloreveranstaltung gemacht haben, dürften diesen Platz zementiert haben. Dass hinter der tragischen Figur der ach so verführerischen Zigeunerin weitaus mehr steckt, das ist weder neu noch ein Geheimnis. In Köln hat sich nun Regie-Shootingstar Lydia Steier diesem Werk gewidmet und scheint mit allem, was Männer jemals in einer Frau gesehen haben abrechnen zu wollen. Denn was kann eine Frau für einen Mann nicht alles sein? Sie ist Mutter und Geliebte, sie ist Hure und Heilige, sie ist Beschützerin und Verführerin. Und was ist sie bei alledem? Sie ist das Opfer männlicher Begierden, Vorgaben und Phantasien, sie ist das Opfer von Projektion und Manipulation. Steier illustriert dies alles bildgewaltig und opulent, ja leider auch gelegentlich etwas überladen.
Der erste Akt ist fernab einer Tabakfabrik, es ist ein Schlachthof, mit angeschlossenen Verkaufsständen – hier wird die Fährte gelegt, dass wohl irgendwann noch Blut fließen muss. Dass dies nicht nur das des Stieres sein wird, geben zwischen den Akten immer wieder dramatisch-verstörende Intermezzi an, in denen Carmen wie in kurzen Visionen ihr Schicksal erkennt. Steier erzählt die Handlung logisch und stringent, zeigt in starken Bildern aber auch eine weitere Ebene. Eindringlich wird dies zu Beginn des zweiten Aktes, wenn Carmen wie eine Madonna ausstaffiert unter einem reichgeschmückten Baldachin steht. Doch bald wird schon klar, dass dies nur eine Fassade ist, die ein gieriger Männerhaufen zerstört: Die Heilige ist sie nicht mehr, die Männer machen sie zur Hure zum Sexobjekt und mit ihr auch noch andere Frauen und so geht es in der vermeintlichen Schmugglerkneipe hoch her und barbusige Frauen dekonstruieren die Heiligkeit, die man uns zuvor noch glauben lassen wollte. Der dritte Akt wird schließlich eindeutig, spielt dieser doch in einer Ansammlung von Wohnwagen, wie man sie leider immer wieder an entlegenen Landstraßen sieht: Wir sind endgültig auf dem Straßenstrich angekommen und wieder werden die Frauen zu den Opfern, zu den Erfüllern der noch so abstrusesten männlichen Gelüste und so werden die Wohnwagen aufs Heftigste zum Wackeln gebracht. Die Frauen sind die wahren Opfer und so liefert Carmen im vierten Akt eine logische Antwort, die sich aus aller den Abend über immer wieder untergebrachten christlichen Symbolik ergibt (ja, im vierten Akt quert sogar der sein Kreuz tragende Jesus mal die Bühne): Sie gibt ihren Leib hin, vergießt ihr Blut als Märtyrerin indem sie sich selbst das Messer in den Bauch rammt. Ist sie die Erlöserin oder ist die Selbsttötung die Flucht aus der Männerwelt? Darüber lässt sich sicherlich trefflich streiten.
Eine Lesart wie diese ist sicherlich interessant und sie funktioniert auch, in der Ausführung ist dann aber doch alles ein bisschen viel. Steier beweist einen unglaublichen Einfallsreichtum, kreiert mittels Statisten wunderbare kleine Randgeschichten – aber unterm Strich ist die Szenerie eben doch immer wieder überladen, überfrachtet und der Zuschauer schafft es nicht durchgängig das Gesehene auf sich wirken zu lassen. Das ist schade, denn vieles was man sieht ist wirklich hervorragend.
Bühnenbildner Momme Hinrichs (fettFilm), hat eine großartige Kulisse geschaffen die düster und beklemmend ist. Man ahnt förmlich, dass hier, in dieser Art Schlachthof schon wahre Ströme von Blut in den Abflüssen versickert sind. Kostümbildner Gianluca Falaschi setzt mit stimmigen Kostümen Akzente und traut sich gelegentlich auch grell zu sein, wie etwa im Madonnenkostüm Carmens.
Star des Abends ist das Kölner Ensemble-Mitglied Adriana Bastidas-Gamboa die in der Rolle der Carmen debütiert. Im Spiel überzeugt die junge Kolumbianerin derart, dass es einem nicht nur einmal eiskalt den Rücken herunterläuft. Sie ist nicht die übertrieben gezeichnete Verführerin, sondern agiert mit einer überraschenden Natürlichkeit, lässt zwischen kurzen aggressiven Ausbrüchen auch immer wieder ihre Opferrolle und das Getriebene hervorblitzen – ein wirklich schauspielerisch bemerkenswertes Rollenportrait! Stimmlich fehlt es Bastidas-Gamboa ein wenig an der Größe, was aber nicht schlimm ist, denn durch wohl gesetzte Nuancierungen, durch Glut in der Tiefe und Dramatik in der Höhe überzeugt sie dennoch auf ganzer Linie.
Ihr zur Seite steht als Don José Martin Muehle, der mit großartiger tenoraler Strahlkraft an die Partie geht, die er in den forte-Passagen auch voll und ganz ausspielt. Aber auch die zarten Momente gelingen und unterstreichen eine exzellente szenische Leistung. Dieser Don José ist so unglaublich sauber auf jedem Schritt vom braven Soldaten zum kriminellen Loser gezeichnet, dass man als Zuschauer fast aufspringen möchte um ihn vor dem nächsten Fehler abzuhalten.
Claudia Rohrbach ist als Micaela eine Frau, die in ihrer absoluten Naivität und Sorglosigkeit ein Gegenentwurf zu Carmen zu sein scheint – sie fügt sich männlicher Bestimmung, ist brav und sittsam und kennt keine innere Rebellion, erkennt nicht ihr Opfer an eine patriarchale Gesellschaft. Stimmlich glänzt Rohrbach mit weichem Timbre und großer Klangschönheit. Auch Oliver Zwarg debütiert in dieser Produktion als Escamillo. Kraftvoll interpretiert er die Partie und zeigt einen Escamillo, der nicht nur plumpe Charge ist. In den kleineren Rollen überzeugen Lukas Barak als Morales, Alina Wunderlin als Frasquita, Arnheidur Eriksdottir als Mercedes, Miljenko Turk als Le Dancaire und Alexander Fedin als Le Remdendado. Alle tragen dazu bei, dass eine szenisch wie stimmlich auf hohem Niveau befindliche Ensembleleistung gelingt.
Der von Rustan Samedov einstudierte Chor agiert gewohnt souverän, hat aber gelegentlich, gerade zu Beginn des Abends ein wenig Mühe dem Dirigat zu von Claude Schnitzler zu folgen. Hier und da klappert es ein wenig, was die Freude am sonst einwandfreien Gesamteindruck ein wenig eintrübt. Das Dirigat des Franzosen ist zügig und zupackend, nur selten lässt er dem großen Apparat allerdings den Raum seine volle Kraft zu entfalten und zeigt kluge, differenzierte Interpretation statt bloßer Klangmalerei.
Am Ende des Abends bricht über alle Beteiligten großer Jubel ein, einzig die Regie bekommt einige wenige Buhrufe ab. Wer zart besaitet ist, dem gefällt diese Carmen vermutlich auch nicht, denn die gezeichneten Bilder sind oftmals drastisch und entbehren auch nicht einer gewissen Anzüglichkeit und Sexualisierung. Wer sich dem aber stellt (und hier sei angemerkt, dass es an deutschen Opernhäusern sicherlich schon Anstößigeres gab) erlebt eine Carmen, die nachwirkt und das soll Oper doch, oder?
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es neben der hier erwähnten Besetzung zahlreiche Doppel- und auch teilweise Dreifachbesetzungen gibt. Ein Blick auf die tagesaktuelle Besetzung sei empfohlen.
(c) Hans Jörg Michel
Sebastian Jacobs, 10.11.2019