Köln: „La Bohème“, Giacomo Puccini

Nun leidet und stirbt sie wieder, die arme lungenkranke Mimi, und das kurz vor Weihnachten so anrührend und herzergreifend, dass die Besucherinnen und Besucher im ausverkauften StaatenHaus  ihre Emotionen mit frenetischem Beifall und wildem Trampeln auf dem Holzboden der Zuschauertribüne zu kaschieren versuchten.

© Hans Jörg Michel

Mimi also: Magdalena Hinterdobler,  seit der Spielzeit 2023/24 Ensemblemitglied der Oper Frankfurt und in Köln unlängst als Chrysothemis in Strauss‘ Oper Elektra stürmisch gefeiert, war die neue, ideale Verkörperung der Pariser Stickerin in der Wiederaufnahme von Puccinis meist gespielter Oper La Bohème , deren Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa auf Henri Murgers Roman Les scènes de la vie de bohème  fußt. In diesem Roman fand  Puccini all das wieder, was er in der Verklärung des Rückblicks mit seiner Studienzeit verband: „Hier fand ich alles, was ich suche und liebe: die Ursprünglichkeit, die Jugend, die Leidenschaft, den Humor, die im Geheimen vergossenen Tränen und Liebe, die Freuden und Leid bringt.“

© Hans Jörg Michel

In die traditionelle, aber ungemein sorgfältige und im guten Sinne werkgetreue Inszenierung des leider schon länger verstorbenen Altmeisters Michael Hampe bringt die lyrisch-dramatische Sopranistin Magdalena Hinterdobler stimmlich und gestalterisch erotische Ausstrahlung und Leidenschaft, aber eben auch herzergreifende Traurigkeit und bitteren Schmerz. Ihre wunderbar warm timbrierte Stimme spricht in allen Lagen gleichermaßen an. Vom aufrüttelnden Fortissimo in ihrer großen Duettszene mit Marcello im 3. Akt bis zu den herrlichsten Pianotönen in ihrer Auftrittsarie  Sì, mi chiamano Mimì  und vor allem in ihrer Sterbeszene im Schlussbild klingt alles wie aus einem Guss. Ihre leuchtende Stimme füllt den großen Saal des StaatenHauses mühelos. Außerdem spielt sie die Seligkeit der ersten Liebe, den Schmerz und die Trauer über die krankheitsbedingte Trennung von Rudolfo und die Verzweiflung über die Todesgewissheit herzergreifend. Ihr ebenbürtig ist der philippinisch-amerikanische Opernsänger Arthur Esperitu, der die Titelpartie mit wunderbarer Italienità verkörperte. Er ist ein ungemein stimmschöner, sympathischer und höhensicherer Rudolfo, der den Vergleich mit Stars in dieser Rolle wie z.B. Joseph Calleja oder Benjamin Bernstein nicht zu fürchten braucht. Sein hohes C in dem Arienhit Che gelida manina ist von einer Mühelosigkeit und Strahlkraft, die Bewunderung abverlangen. Dabei kommt seinem lyrischen Tenor zugute, dass Guiseppe Finzi aus dem bestens aufgelegten Gürzenich-Orchester Köln  zwar große Emotionen hervorlockt und  vor allem in den ersten beiden Akten in den leuchtenden Klängen von Puccinis Musik schwelgt,  aber stets  mit  Einfühlsamkeit und großer Differenzierung dirigiert und dabei die Sängerinnen und Sänger nie zudeckt.

Davon profitiert auch  Insik Choi als Marcello, der schon bei seinem Debüt in dieser Rolle vor nunmehr acht  Jahren – damals noch Mitglied im Internationalen Opernstudio der Oper Köln – das Publikum zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Nun ist die Stimme des jungen Koreaners, der vor wenigen Tagen beim Weihnachtskonzert der Freunde der Kölner Oper e.V. für seine herausragenden Leistungen auf der Opernbühne mit dem Offenbachpreis ausgezeichnet wurde, weiter gereift. Sein voller Bariton strömt nicht nur herrlich in Tiefe und Mittellage, sondern entwickelt gerade in der Höhe völlig unangestrengten tenoralen Glanz. Eine großartige Leistung, die auch vom Publikum mit Ovationen gewürdigt wurde. Auch alle anderen Partien waren rollendeckend besetzt. Federica Guida als quicklebendig Musetta, Wolfgang Stefan Schwaiger mit balsamischem Bariton als Shaunard, Lucas Singer als nobler Colline und in den Nebenrollen Christoph Seidl  als Benoît/ Alcindoro und Rhydian Jenkins als Parpignol komplettierten das vorzügliche Ensemble, das diese Aufführung zu einem Fest der Stimmen machte. Das Publikum jedenfalls fühlte sich in Festtagsstimmung, und dies nicht zuletzt auch wegen der stimmungsvollen Bühnenbilder und Kostüme (Germán Droghetti), welche die Handlung in die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts verlegen.

© Hans Jörg Michel

Paris ist schon eine moderne, lichtdurchflutete Großstadt. Das große Fenster der Mansardenwohnung der jungen Künstler gibt jedenfalls den Blick auf die hell illuminierten Wahrzeichen von Paris frei. Mit den verschiedenen Tageszeiten ändert sich auch das Licht der Großstadt. Das ist wunderbar anzusehen. Die immer wieder mit Chagall Bildern überblendete Hintergrundkulisse (Video: Thomas Reimer), die liebevoll ausgewählten Requisiten, selbst die kunstvoll inszenierten, scherenschnittartigen Bühnenumbauten zwischen den Bildern – einen Bühnenvorhang gibt es nicht – entwickeln eine große suggestive Kraft, der man sich als Betrachter und Zuhörer kaum entziehen kann. Die Absage Hampes an ein modernes Regietheater geht in dieser Kölner Inszenierung voll auf.

Das Publikum dankt es dem früheren langjährigen Intendanten der Kölner Oper immer wieder mit spontanem Zwischenapplaus, etwa wenn er im 2. Akt wie auf Knopfdruck durch die Videoprojektion das Quartier Latin aus dem Hut zaubert, in dem der Chor der Oper Köln und die Knaben und Mädchen der Kölner Dommusik als ausgelassene Weihnachtsgesellschaft stimmlich und schauspielerisch in ihren historischen Kostümen brillieren. Da wollen sogar die eng stehenden Häuser in der Nachbarschaft des berühmten Café Momus, wo die jungen Künstler feiern und Rudolfo seinen Freunden Mimi vorstellt, nicht zurückstehen und tanzen im Hintergrund mit. Das Publikum feiert am Ende der Vorstellung alle Beteiligten mit nicht enden wollendem Beifall.

Fazit: Puccinis La Bohème in Köln ist ein vorzeitiges oder auch nachträgliches Weihnachtsgeschenk für alle Besucherinnen und Besucher, das man nicht verpassen sollte.

Norbert Pabelick, 24. Dezember 2024


La Bohème
Giacomo Puccini

Oper Köln

Premiere am 22. November 2015
Aufführung 23. Dezember 2024

Inszenierung: Michael Hampe
Musikalische Leitung: Giuseppe Finzi
Gürzenich-Orchester Köln

Historischer Trailer