Eva Maria Höckmeyers Inszenierung der Lucia die Lammermoor aus dem Jahr 2016 erlebte in Köln nun schon die zweite Wiederaufnahme. Und um es vorwegzunehmen, der Abend wurde vor allem musikalisch zu einem Triumph. Aber auch die Inszenierung hat im Abstand von nunmehr annähernd neun Jahren nichts an Aktualität und Frische eingebüßt.

Eva Maria Höckmeyer hatte seinerzeit mit einer viel beachteten Inszenierung von Puccinis Einakter „Suor Angelica“ in Köln ihr Gesellenstück abgeliefert, nun also führte sie Regie bei einer der bekanntesten Belcanto-Opern, die schon manchem Regisseur angesichts des verwickelten Stoffs schlaflose Nächte bereitet hat. Höckmeyer lässt die Handlung vor dem geschichtlichen Hintergrund der letzten Jahre des Dritten Reiches und der unmittelbaren Nachkriegszeit spielen. Die Familie der Ashtons, zu der nun neben Enrico und Lucia auch Raimondo, Alisa und Normanno gehören, hat sich in dem enteigneten Haus einer jüdischen Familie breit gemacht, deren letzter Überlebender Edgardo in verzweifelter Liebe zu Lucia entbrannt ist. Allerdings hat die Götterdämmerung der Naziherrschaft bereits eingesetzt und die Ashtons vernichten Beweismittel ihrer verbrecherischen Handlungen, indem sie verräterische Papiere verbrennen. Pate für die imposante, die Bühne beherrschende Vorderfront der Villa, die zu ihrer Entstehungszeit als sensationelle architektonische Neuschöpfung empfunden wurde, stand das legendäre Haus Tugendhat von Ludwig Mies von der Rohe in Brünn, das von den Nazis okkupiert, später in kommunistischen Besitz überging und nun seit 2012 der Öffentlichkeit übergeben worden ist.
Der Blick in das im ersten Stock gelegene Schlafzimmer verschafft dem Zuschauer immer wieder die Möglichkeit, die handelnden Figuren in ihren intimsten Situationen und in ihrer Innensicht zu beobachten, während die breite Treppe und der Hof mit dem Brunnen die Schauplätze für die öffentlichen Auftritte und Auseinandersetzungen der Figuren darstellen. Die Vergangenheit des Hauses wird sichtbar in den geisterhaft wirkenden Gestalten der vertriebenen jüdischen Familie und ihrer arischen Nachfolgefamilie, die einst das Haus bewohnt haben und nun als stumme Zeugen des mörderischen Geschehens fungieren. Dieses nimmt konsequent seinen Lauf. Die Naziherrschaft ist beendet, die alten Eliten versuchen sich mit den neuen Besatzern zu verbünden.

Enrico gelingt es, Lucia von Edgardos Untreue zu überzeugen. Um sich wirtschaftlich abzusichern und der drohenden Restitution des angeeigneten jüdischen Vermögens zu entgehen, zwingt er Lucia zur Heirat mit Arturo, der hier Sohn eines hohen Repräsentanten der alliierten Besatzungstruppen ist. Seine inzestuöse Beziehung zu seiner Schwester versetzt ihn nicht nur in raserische Wut gegenüber Edgardo, der seine Rechte gegenüber Lucia einfordert, sondern auch gegenüber Arturo, den er zum Schrecken Lucias in deren Hochzeitsnacht mit dem ungeliebten Ehemann erschlägt. Das Ende ist ein Ende mit Schrecken: Lucia und ihr Bruder begehen Selbstmord, Edgardo nimmt sich das Leben, indem er sich mit einer Glasscherbe Puls- und Schlagader aufschneidet. Dabei fließt das Blut in Strömen. Das ist alles sehr konsequent inszeniert und es gibt immer wieder sehr eindrucksvolle Bilder und Arrangements des Chores auf der breiten Treppe, die aus dem ersten Stockwerk in den mit einem Brunnen verzierten Hof führt. Häufig fühlt man sich an Bilder Hoppers erinnert, etwa wenn sich Arturo und Lucia regungs- und kommunikationslos in der Hochzeitsnacht gegenübersitzen.
Musikalisch hatte die Aufführung Weltklasseniveau. Titelheldin des Abends war die junge Sopranistin Katrin Zukowski, die in Köln mittlerweile zu einem ausgesprochenen Publikumsliebling geworden ist. Ihre Karriere begann einst im Internationalen Opernstudio der Oper Köln, inzwischen ist sie festes Ensemblemitglied und wurde erst unlängst für ihre Interpretation der Donna Anna in Mozarts Oper Don Giovanni begeistert gefeiert. Die von den Freunden der Kölner Oper mit dem Offenbachpreis ausgezeichnete Katrin Zukowski meisterte die halsbrecherische Partie der Lucia mit Bravour. Ihre Lucia ist in Spiel und Gesang eine leidenschaftliche, von widerstreitenden Gefühlen innerlich zerrissene junge Frau, die ihrem Leben schließlich selbst ein Ende setzt. Triumphale Spitzentöne, vor allem aber ein völlig unprätentiöser, reiner und verinnerlichter Gesang dieser musikalisch begnadeten Sängerin erzeugten beim Zuhören Gänsehaut pur. Schon ihre Auftrittsarie „Regnava nel silenzio“, vor allem aber ihre Wahnsinnsarie im 2. Akt wurden so zu unvergesslichen Höhepunkten eines an sängerischen Glanzlichtern nicht eben armen Abends. Man darf ohne Übertreibung sagen, dass mit Katrin Zukowski ein neuer Stern am Belcanto-Himmel aufgegangen ist.

Ihr ebenbürtig war der sizilianische Tenor Enea Scala, der bis jetzt vor allem im lyrischen Fach in Rossini-Opern, aber auch z.B. als Alfredo in Traviata bei Festspielen in Pesaro und Glyndebourne sowie in der Arena di Verona Triumphe gefeiert hat. Enea Scala verfügt über eine in allen Lagen strahlende, samtweiche Tenorstimme, die sich auch in den Ensemblestellen mühelos über das Orchester schwingt. Seine große Schlussszene mit der mörderisch schwierigen Arie „Tombe degli avi miei“ setzte einen eindrucksvollen Schlusspunkt hinter eine imponierende schauspielerische und sängerische Glanzleistung. Man kann gut verstehen, dass die Hamburger Staatsoper Enea Scala 2026 als Manrico in Verdis Il trovatore verpflichtet hat. Seine Stimme ist längst über das rein lyrische Fach hinausgewachsen.
Insik Choi als Enrico, der gerade in einer Aufführungsserie von Bizets Oper Carmen in Köln als Escamillo gefeiert worden war, war Scalas gewichtiger und ebenbürtiger Widerpart. Sein kraftvoller Bariton gab dem Bruder der Lucia, der in dieser Inszenierung ein differenzierteres, vielleicht nicht immer ganz überzeugendes Charakterprofil – angedeutet werden inzestuöse Beziehungen zur eigenen Schwester – gewinnt als in herkömmlichen Interpretationen dieser Rolle, überzeugende Kontur und Schärfe. Schon in seiner Auftrittsarie im ersten Akt „E n’ho ben d‘onde“ blieb Insik Choi der heldischen Partie des Enrico nichts schuldig und prunkte mit mühelosen Spitzentönen. Sein Duett mit Edgardo zu Beginn des 2.Aktes, das statt der von Edgardo erhofften Versöhnung zu einer neuerlichen, noch heftigeren Konfrontation der beiden Widersacher führt, ist an Intensität und Expressivität kaum zu überbieten.
Byung Gil Kim verströmte als Raimondo balsamische Bassfülle. Auch die kleineren Rollen swaren mit Dmitry Ivanchey (Arturo), John Heuzenroeder (Normanno) und Tina Drole (Alisa) bestens besetzt.
Am Pult des vorzüglich disponierten Gürzenichorchesters stand mit Giuliano Carella ein ausgesprochener Belcantospezialist, der an allen großen Opernhäusern in Europa zu Hause ist. Im Staatenhaus gelang es ihm unter schwierigen Bedingungen – die Positionierung des Orchesters erlaubte keinen unmittelbaren Kontakt mit den Sängerinnen und Sängern-, die Balance zwischen Orchester, Chor und Solisten herzustellen. Mit seinem Dirigat traf er den Belcanto-Ton von Donizettis Oper vortrefflich. Die Musikerinnen und Musiker des Gürzenichorchesters zeigten sich jedenfalls in blendender Spiellaune. Ein besonderes Lob gilt Sascha Reckert an der Glasorgel, der mit den geheimnisvoll umflorten Tönen seines Instruments die Wahnsinnsarie Lucias nachhaltig untermalte. Differenziert und klangschön agierte der Chor, diesmal unter der fachmännischen Leitung von Yusuke Takai.
Fazit: ein vor allem musikalisch beglückender Opernabend, der von den Besucherinnen und Besuchern im Staatenhaus enthusiastisch gefeiert wurde.
Norbert Pabelick, 27. April 2025
Lucia di Lammermoor
Gaetano Donizetti
Oper Köln
Aufführung am 26. April 2025
Premiere am 12. Juni 2016
Inszenierung: Eva Maria Höckmeyer
Musikalische Leitung: Giuliano Carella
Gürzenich-Orchester Köln
Weitere Aufführungen am 30. April, 2./4./8. Mai 2025